23.04.2005 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

In nur 72 Tagen um die Welt

Schneller als Jules Vernes Held: Bielefelder Arzt sammelt alles über Nellie Bly

Von Dietmar Kemper und
Stefan Hörttrich (Foto).
Bielefeld (WB). Während der exzentrische Engländer Phileas Fogg 80 Tage für die Reise um die Welt brauchte, kehrte die amerikanische Reporterin Nellie Bly nach 72 Tagen, sechs Stunden, elf Minuten und vierzehn Sekunden zurück. Den Titelhelden aus dem Roman von Jules Verne kennt jeder, die mutige Frau aus Pennsylvania dagegen kaum einer.
Jung und unerschrocken: Nellie Bly.

»Nellie Bly war zu ihrer Zeit so berühmt, dass ihr ein Spiel gewidmet wurde«, erzählt Enrique Robertson. Der Arzt aus Bielefeld stieß in Bethel auf eine Reproduktion des Spiels und interessiert sich seitdem für die Geschichte der Reporterin. »2005 wird überall an den 100. Todestag von Jules Verne erinnert, aber Nellie Bly kommt darin nicht vor«, bedauert der 60-jährige Chilene. Bly und der französische Romancier seien sich persönlich begegnet, und Jules Verne habe, beeindruckt von ihrer Forschheit, ausgerufen: »So ein Kind!« Als Nellie Bly am 14. November 1889 mit 25 Jahren am Hoboken Pier in New York das Schiff »Augusta Victoria« bestieg, war sie bereits eine angesehene Journalistin. Howard Pulitzer hatte sie für die »New York World« eingestellt. Die am 5. Mai 1864 in Pennsylvania geborene Frau machte durch schonungslose Reportagen von sich reden, zum Beispiel, als sie sechs Monate durch Mexiko reiste und die Armut der Menschen genauso wie die Korruption in der Politik anprangerte.
Im Herbst 1888 unterhielten sich Geschäftsführung und Redakteure der New York World über Jules Verne. Dessen Buch »In 80 Tagen um die Welt« war 1873 in Frankreich erschienen und dann sukzessive in der ganzen Welt veröffentlicht worden. Als Werbegag solle ein Mitarbeiter versuchen, schneller als Jules Vernes Titelheld Phileas Fogg die Erde zu umrunden, entschieden die Verantwortlichen der Zeitung. »Wenn ihr mich nicht losschickt, mache ich es für eine andere Zeitung in noch kürzerer Zeit«, soll Nellie Bly gedroht haben. »Sie setzte sich stark für die Rechte von Frauen ein und wollte besser sein als ein Mann«, weiß Enrique Robertson.
Statt von London aus wie Phileas Fogg startet Nellie Bly in New York: Schiff, Zug, Rikscha, Kutsche und der Rücken von Tieren dienen ihr als Transportmittel für die Tour über 42 700 Kilometer. Suez, Bombay, Shanghai, Dublin und Brindisi lauteten einige der Stationen. »Jeden Tag berichtete Nellie, wie es ihr erging«, erzählt Robertson. Und damit die Leser der »New York World« mitreisen konnten, brachte die Zeitung das Spielbrett heraus, auf dem es je nach Würfelglück schnell oder langsam voranging. Als Bly acht Tage früher als Fogg nach New York zurückkehrte, bereitete ihr die Metropole mit Feuerwerk und Parade einen begeisterten Empfang.
Nellie Bly bekam sogar eine eigene Briefmarke. Möglicherweise schmückte sie sogar den Bug eines Schiffes. Enrique Robertson schreibt Beiträge für Bücher und Fachzeitschriften über Leben und Werk von Pablo Picasso und Pablo Neruda. Letzterer habe Galeonsfiguren gesammelt, und eine davon weise verblüffende Ähnlichkeit mit dem Gesicht von Nellie Bly auf, hat Robertson festgestellt. Anscheinend habe die Geschichte der Nellie Bly einem Holzschnitzer als Vorlage für seine Arbeit gedient.
Dass die mutige Reporterin in Deutschland so wenig bekannt ist, erklärt sich Robertson mit der Erzfeindschaft zu Frankreich, die durch den Krieg 1870/71 neu angeheizt wurde. Vorurteile gegen alles Französische, auch gegen Schriftsteller wie Jules Verne, hätten verhindert, dass die Parallelen zwischen Phileas Fogg und Nellie Bly die verdiente Würdigung fanden.
Während der englische Dandy immer schon reich war und sein halbes Vermögen als Wetteinsatz anbot, kam die Reporterin erst spät zu Geld. Im April 1895 heiratete sie den Millionär Robert Livingston Seaman. Nelly Blie starb am 27. Januar 1922 an Lungenentzündung.
»In 80 Tagen um die Welt« gibt es als WESTFALEN-BLATT-Jugendbuch in allen Geschäftsstellen.

Artikel vom 23.04.2005