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Missverständnis: Ratzinger ist ein Reformer

Kirchenhistorikerin Fenger: Päpste sind nicht Deutsche oder Italiener, sondern Kosmopoliten

Von Dietmar Kemper
Paderborn (WB). Papst Benedikt XVI. gilt als erzkonservativ. Dabei ist er bei genauerem Hinsehen ein Reformer.

»Das vom lateinischen Verb reformare abgeleitete Wort Reform bedeutet Ausrichtung an dem Ursprünglichen«, sagte die Professorin für Kirchengeschichte an der Universität Paderborn, Anne-Lene Fenger, gestern dieser Zeitung. Reform im kirchlichen Sinne meine die Reinigung von Auswüchsen nach rechts oder links, nicht die Abkehr vom Alten. Fenger: »Wir haben ein völlig falsches Verständnis von Reform, wenn wir sie vom Papst einfordern.«
Außerdem werde die nationale Herkunft des Papstes überschätzt, sagte die Wissenschaftlerin, die über die patriotische Begeisterung etwa der Bild-Zeitung (»Wir sind Papst«) den Kopf schüttelt. Die Oberhirten der katholischen Kirche hätten sich schon immer als Kosmopoliten verstanden. »Bis zum Aufkommen der Nationalstaaten und dem Ende des Kirchenstaates 1870 war die Herkunft des Papstes überhaupt kein Thema«, blickt Fenger zurück.
Ob in Deutschland jetzt ein Glaubensfrühling einsetze, sei nicht abzuschätzen, weil die historischen Erfahrungen fehlten: »Seit Hadrian VI. 1522 sind bis zu Johannes Paul II. nur Italiener zum Papst gewählt worden. Man könnte also höchstens untersuchen, ob der jeweilige Oberhirte Folgen für die Region in Italien hatte, aus der er stammte.« Auch das Argument, die Wahl Ratzingers sei deshalb etwas besonderes, weil er aus dem Lande Luthers komme, hält Fenger nicht für überzeugend: »Das Land Luthers war das Heilige Römische Reich deutscher Nation; dessen Kaiser war der Spanier Karl V. und Bayern wurde zum Beispiel von der Reformation gar nicht erfasst.«
Dass Päpste wie Johannes Paul II. auf striktem Gehorsam bestehen, sei in der Kirchengeschichte ein relativ neues Phänomen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Enzyklika »Mirari Vos« von Gregor XVI. habe alles Neue verdammt und konsequente Unterordnung angemahnt. Papst-Dogmen gebe es erst seit 1870. In dieser Zeit ging das Pochen auf Hierarchie mit der Öffnung gegenüber der Menge einher. Kirchenhistorikerin Fenger: »Pius IX. mischte sich unters Volk und ließ sich etwa vom Zugabteil aus feiern. Für die Zeit war das etwas Hochbedeutendes.«
Die Forderung in Presse und Fernsehen nach dem Zugang der Frau zum Priesteramt sei in den vergangenen Jahrhunderten kein Thema gewesen, weiß Anne-Lene Fenger: »Selbst Luther wäre aus den Schuhen gesprungen, wenn er eine Frau predigen gesehen hätte.«

Artikel vom 22.04.2005