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Für Körper, Geist und Seele

Hermannslauf hat Kultstatus - Auch ein Stück Selbstbestätigung

Von Jörg Manthey
Bielefeld (WB). Alle wollen nur das eine. 515 Meter Steigungen, 710 Meter Gefälle. Es warten kultige Waldwege, kultiger Sandboden mit asphaltierten Teilstücken, kultiges Kopfsteinpflaster und legendäre Treppenstufen in Lämershagen - Stau garantiert. Kaum ein anderes Breitensportfest in Bielefeld vereint das hiesige Sportlervölkchen jeglicher Couleur so wie dieser Landschaftsklassiker im Frühjahr. Manche heben den Hermannslauf aufs Schild als »Rennsteig des Westens«.

Wenn die Detmolder Grotenburg unter den Schritten der mehr als 14 200 trabenden Beine erbebt, die Läuferlegion über den Großen Ehberg, Stapelager Schlucht, Tönsberg, Oerlinghausen, Schopketal, Eisernen Anton und Ebberg einem bunten Lindwurm gleich gen Bielefelder Wahrzeichen strebt, ist Reizüberflutung garantiert und gewollt.
Ob aufgrund einer Wette, des Eintritts in die Wechseljahre oder anderer Kapriolen: Längst reist die »hungrige« Klientel nicht mehr nur aus dem Läuferlager an. Leistungs- und Breitensport geben sich die Hand. Wasserballer wie Martin Wittwer oder Marc Seibert (SV Dornberg), Aerobic-Trainerin Daniela Franz (TSV Altenhagen), ABC-Boxer Clemens Brügge, Radsportler Frank Weber (TSV Altenhagen) oder SVB-Schwimmer Andreas Bertling - sie alle stehen am Sonntag lange vor dem Startschuss, um 11 Uhr abgegeben vom Schirmherren Prof. Dr. Wolfgang Schlüter, fröhlich neben mehr als 7100 Gleichgesinnten unterhalb des Hermannsdenkmals.
Auch mittlerweile in die Jahre gekommene Fußballer verlieren ihr Herz mehr und mehr an das »Ungeheuer« mit der krummen Distanz. Die Altliga des VfL Schildesche etwa ist mit Michael Keisker (M 40), dem Triathlon-erprobten Gerd Brettschneier (M 40) und Stefan Norkowski (M 35) vertreten. »Die Atmosphäre, zum Beispiel die Massen an der Panzerstraße, ist doch einmalig. Es macht einfach Spaß. Besonders die Quälerei vorher«, schmunzelt Karosseriebauer Norkowski.
Sein Onkel Heiner, Sonntag in der M 55 vertreten, infizierte ihn vor Jahren mit dem Laufbazillus. Stefan Norkowski, der vor zwei Wochen den Brackweder Spiegelberglauf zur Standortbe-stimmung nutzte, mischt zum dritten Mal mit. Mit dem persönlichen Ziel, »immer besser zu werden«. Bislang 2:33 Stunden sind eine Hausnummer für einen, der sonst an den Ball tritt. Ohne Respekt nimmt Norkowski das Wort Tönsberg in den Mund. »Ein Hammerding. Aber das schaffen wir auch«.
Jens Lebelt vom TuS Jöllenbeck (M 35) und André Kapsa-Block (VfB Fichte/M 35) vertreten ebenso die Kickerfront. Als Einzelkämpfer für das Lutter-Team hat Arminias früherer Bundesliga-Schlussmann Wolfgang Kneib gemeldet. Bei seiner Premiere im Vorjahr erreichte der »Lange« (M 50) eine Zeit von 3:17:35 Stunden.
Oldentrups Ex-Trainer übt nach seiner Vorbereitung den Doppelpass. »Es ist ein bisschen wie vor dem Serienstart im Fußball. Man weiß nicht, wo man steht«, schmunzelt Alfred Springer (TuS Hillegossen, Jahrgang 1951), seit Januar im Training. Für den Peugeot-Autoverkäufer steht zum dritten Mal die »Herausforderung« an, »ob man es schafft oder nicht. Ich bin ja nicht mehr der Jüngste«. Möglichst soll die Bestzeit von seinem Debüt im Jahr 2003 (3:43:13 Std.) fallen.
Die Kollegen Handballer sind seit Jahr und Tag dabei. Peter Ellerbrock vom TuS 97 Bielefeld-Jöllenbeck ist inzwischen ein treuer Fan und mag das Spektakel nicht mehr missen.
Torsten Lampe (M 40) blickt einem kleinen Jubiläum entgegen, für ihn ist's das zehnte Mal. Der frühere Trainer des Landesligisten TuS Brake tritt als Polizist an. Bei dieser Berufsgruppe ist der Hermannslauf, wie die starke Präsenz von Ordnungshütern dokumentiert, besonders beliebt. »Sollte was passieren, wird uns Dienstausfallschutz gewährt«, erklärt Lampe. Als einer der fünf Zeitschnellsten erreichte er 2004 mit der Polizei Bielefeld den achten Rang in der Firmen-Teamwertung.
»Der Hermann ist einfach Kult. Den musst du als Ostwestfale mitlaufen. Der ist jedes Jahr Ende April ein Fixtermin«, freut er sich auf die »Herausforderung«.
In diesem Jahr hatte der acht Monate alte Ben Lampes Vorbereitung ein bisschen durcheinandergewirbelt. »Im Zeitfenster zwischen zweieinhalb und zweidreiviertel Stunden« möchte er dennoch bleiben. »Das hängt aber auch von der Pulkbildung ab. Manchmal ist es so eng, da läufst du ja nicht, da wirst du gelaufen«. Sagt einer, der es wissen muss.
Dem Seniorenhandball hat Torsten Lampe vorerst abgeschworen. »Ich möchte jetzt im Jugendbereich etwas bewegen«, sieht der D-Juniorencoach des VfL Herford im Ausbildungsbereich neue Perspektiven.
Ungeachtet der historischen Bedeutung: Warum heißt der Hermannslauf noch Hermannslauf? Genau, weil Nicole und Marc Hermann (M/W 35) mitlaufen. Er, bekannt vom VfR Wellensiek, sie läuft laut Anmeldung für die LG Blackenfeld 98. »Die gibt es aber gar nicht«, schmunzelt der Schelm aus Vilsendorf. Der frühere Torhüter, spätere Torwarttrainer und jetzige Altligaspieler des VfR ist »vom Lauffieber gepackt«.
Ursprünglich wollte Marc Hermann sich die Quälerei nur ein Mal aufbürden. »Aber dann hat's mir so viel Spaß gemacht und es lief so erfreulich, dazu noch die tolle Atmosphäre an der Strecke, dass es mich jetzt gepackt hat«.
»Gut durchkommen« heißt seine Hauptprämisse. Doch angesichts des wachsenden Ehrgeizes erfährt der flüchtige Blick auf die Uhr eine immer größere Priorität. Nach 2:58 Stunden bei der Premiere und 2:49 Stunden beim zweiten Mal hofft Grenzgänger Marc Hermann auf eine weitere Steigerung.
»Nur ist die Strecke diesmal ja etwas länger. Ich wäre hochzufrieden, wenn ich unter drei Stunden bleiben würde«. Um sich auf das Ereignis vorzubereiten, dass für ihn »auch ein bisschen Selbstbestätigung« darstellt, hat Marc Hermann das ein oder andere Altligatraining »sausen lassen« und stattdessen lieber seine Runden um den Obersee gedreht.
Von der Kunst des richtigen Atmens profitiert Martin Zobel-Schmidt vom Verein für Kampfkunst Zen-Do, Jahrgang 1960. Er setzt die in ihm schlummernden Kräfte zum siebten Mal läuferisch von Detmold nach Bielefeld um. Zu effizienten Übungen, die Körper, Geist und Seele so trainieren, dass innerer Wachstum und Reife dabei herauskommen, kann gut und gerne auch der »Hermann« gezählt werden. Mit 2:16:19 Stunden erreichte Zobel-Schmidt 2004 eine glänzende Zeit, die ihn auf Rang 257 hievte.
Der frühere Bielefelder Berufsboxer Salvador Yanez (M 40) ist zwar wieder angemeldet, muss seine dritte Hermannslaufteilnahme aber mit großem Bedauern verschieben. »Aufgrund beruflicher Überlastung bin ich nicht richtig zum Trainieren gekommen«, sagt der ehemalige IBF-Interkontinentalmeister im Mittelgewicht (1995), der sporadisch immer noch boxt. 2002 war »Chato«, die Plattnase, nach 3:11 Stunden ins Ziel gekommen. Und bloß halb fit in den Ring steigen - nein, dass ist nicht sein Ding. Dafür macht sich SVB-Boxtrainer Hans-Joachim Ribow in der M 70 auf den Weg.
Ein Hinweis für Zögerer und Zauderer, egal welchen Alters und Geschlechts: Nur Mut! Ende April 2006 steht ganz gewiss die 35. Auflage an. Der Hermannslauf ist kein Problem, sondern die Lösung. Marc Aurel hat mal was Schlaues so formuliert: »Auf Dauer nimmt die Seele die Farben deiner Gedanken an«. Wer seinen Kopf ohne übertriebenen Ehrgeiz regelmäßig in Wald und Flur »freibläst« - zum Beispiel in der Vorbereitung auf den Hermannslauf - mag diese mächtigen Worte ein bisschen besser verstehen.

Artikel vom 22.04.2005