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Leitartikel
Wachsen mit dem Amt

Der dritte Ratzinger und »wir«


Von Reinhard Brockmann
Frage: »Ist es einem Kardinal erlaubt, über Sex zu reden?«
Antwort: »Ja, natürlich... Sex ist ja nicht mit dem Etikett Sünde abzutun, sondern zunächst einmal eine Schöpfungsgabe...«
Aus: »Joseph Kardinal Ratzinger, Salz der Erde, ein Gespräch mit Peter Seewald«.
Auf 300 Buchseiten ist das 1996 geführte Interview mit dem damaligen Vorsitzenden der Glaubenskongregation festgehalten. Wer lesen wollte, konnte schon damals überraschende Ein- und Ansichten erfahren. Wer sich das Buch jetzt erneut vornimmt, der wird Papst Benedikt XVI. wiederum anders sehen.
Kontinuität und Veränderung. Vermutlich 100 von 115 Kardinälen haben Ratzinger im letzten Wahlgang ihre Stimme gegeben, um die »Erfolgsstory« eines Vierteljahrhunderts über den Tod von Johannes Paul II. fortzuschreiben. Sie haben ihn aber auch deshalb gewählt, weil sie es besser wussten als die öffentliche Meinung. Die Kardinäle haben Ratzinger als mehr kennengelernt als den bloßen Glaubenswächter. Er war eben nicht das Schreckgespenst der Inquisition, das hierzulande gern bemüht wurde.
Papst Benedikt XVI. wird mit dem Amt wachsen. Davon sind die Römer, inzwischen aber auch eine Reihe führender Vertreter anderer christlicher Kirchen überzeugt. Mit Benedikt dürfte sich wiederholen, was schon für Karol Woityla, Giovanni Battista Montini (Paul VI.) und Angelo Giuseppe Roncalli (Johannes XXIII.) galt.
Nebenbei: Die katholische Kirche in Deutschland sollte nicht erwarten, dass das »Wir sind Papst« der »Bild«-Zeitung mehr bedeutet als spontane Freude. Deutschland darf für Benedikt nichts anderes sein als jede andere Ortskirche sonstwo in der Welt.
Die ersten Entscheidungen des auf Lebenszeit gewählten Benedikt XVI. lassen Kontinuität erkennen. Alle führenden Vertreter der Vatikan-Führung wurden im Amt bestätigt. Allein die Nachfolge Ratzingers in der Glaubenskongregation ist noch offen.
Unter denen, die ihr Amt behalten, steht Kardinalstaatssekretär Angelo Sodano an erster Stelle. In der Regierung bleibt zudem Sodanos Stellvertreter, der Erzbischof Leonardo Sandri, sowie der Vatikan-Außenminister Erzbischof Giovanni Lajolo, der lange Jahre den Heiligen Stuhl bei der Bundesregierung in Bonn und Berlin vertreten hat. Lajolo ist in den letzten 15 Jahren in Paderborn mindestens so häufig gesehen worden wie Ratzinger selbst.
Auch die Kardinäle und Erzbischöfe, die den anderen Ministerien vorstehen, sowie der zentrale Beamtenapparat und der Gouverneur von Vatikan-Stadt wurden zunächst bestätigt. Das muss nicht so bleiben.
Früher hieß es, es gebe zwei Ratzinger: Einen progressiven vor Rom und eben den gestrengen Glaubenswächter. Wir dürfen nun auf den dritten Ratzinger gespannt sein. Er selbst hat zum Wandel seiner Person 1996 übrigens sinngemäß gesagt: Ich bin mir immer treu geblieben, die anderen haben sich wegbewegt.

Artikel vom 22.04.2005