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Bevor die Touristen kommen
Bangladesch -ÊAspekte und Schönheiten eines von Natur, Geschichte und Politik gebeutelten Landes in Südasien
Marokko, Mauritius, Malediven - die Nachbarn protzen mit ihren Urlaubserlebnissen. Und wohin fahren wir? Da fällt der Blick auf ein Plakat: »Besuchen Sie Bangladesch, bevor die Touristen kommen.«
Bangladesch - das ist doch das Land, wo der Hunger blüht. Wo Fährunglücke und Fabrikeinstürze immer gleich 'zig Todesopfer fordern. Wo Stürme und Fluten regelmäßig einen Großteil der Ernte zerstören. Wo sich die Bevölkerung schon jetzt dichter drängt als in jedem anderen Flächenstaat der Erde. Und wo trotz der Werbung für Geburtenkontrolle die Bevölkerung noch wächst. Bangladesch - das ist eine riesige Tiefebene, die untergehen wird, wenn der Meeresspiegel weiter steigt. In der Armutstabelle Asiens weit unten und in der Korruptionsstatistik von Transparency International ganz an der Spitze: Bangladesch - ein Land zum Urlaub machen?
Gewiss nicht jede Art von Urlaub. Die amtliche Statistik sagt, dass von Jahr zu Jahr mehr ausländische Besucher ins Land kommen. Doch bei näherem Hinsehen erweist sich: Die neuen Touristen sind zumeist bangladeschische Auswanderer auf Heimaturlaub.
Aber als Westeuropäer? Sicher - es reisen trotz der Tsunami-Katastrophe auch schon wieder Leute nach Indonesien, Thailand und Sri Lanka. Und sie erhalten dafür sogar Lob, weil sie mit ihren Devisen den Wiederaufbau fördern. Doch Bali, Thailand und das frühere Ceylon haben wunderschöne Strände. Was aber hat Bangladesch?
Sonar Bangla, das in der Nationalhymne besungene »goldene« Bengalen, hat einen der längsten Sandstrände. Von CoxÕs Bazar reicht er bis zur Grenze mit Myanmar. Insgesamt 129 Kilometer. Wunderschön ist er, hat nur einen Nachteil: Bikinimädchen und Muskelmänner in knappen Badeshorts sucht man vergebens. Wenn überhaupt, dann hüpfen Bengalen nur in »voller Montur« ins Meer.
Aber die Topographie Bangladeschs wartet noch mit mehr Überraschungen auf. Das satte Grün der Reisfelder entschädigt sofort für den Staub und Lärm der Hauptstadt Dhaka, mit der jede Bangladesch-Reise zwangsläufig beginnt. Faszinierend sind die Sonnenauf- und untergänge an den großen Flüssen Padma (Ganges), Brahmaputra (Jamuna) und Meghna. Zugleich beherbergt Bangladesch zusammen mit Indien die Sundarbans, das größte Mangroven-Sumpfgebiet der Welt.
Auf kombinierten Boots- und Wandertouren begegnet man neben Fischern und Maualis (Honigsammler) mit Geduld und etwas Glück seltenen Schlangen, Schildkröten und Flussdelphinen. Höhepunkt einer solchen Sundarban-Tour ist, wenn sich - möglichst nah und doch nicht zu nah - einer der letzten bengalischen Königstiger zeigt.
Ein besonderer Anziehungspunkt für bangladeschische Touristen sind Rangamati und andere Städte um den in den 60er Jahren gegen den Protest der dort lebenden Stammesbevölkerung erbauten Kaptai-Stausee. Der Konflikt mit den weiter in großer Zahl einwandernden Bengalen hält an. Ausländer benötigen für den Besuch in den »Chittagong Hill Tracts« eine spezielle Erlaubnis. Eine Bootsfahrt auf dem See ist gar nur mit Polizeibegleitung möglich. Wer sich daran nicht stört, wird durch wunderschöne Aussichten und interessante Begegnungen entschädigt.
Bangladesch ist heute ein mehrheitlich islamisches Land. Dass dies nicht immer so war, bezeugen die beeindruckenden Ruinen der ältesten Stadt des Landes. Die historischen Überreste im heutigen Mahasthangarh reichen bis in das dritte vorchristliche Jahrhundert zurück und sind sowohl hinduistischen als vor allem buddhistischen Ursprungs.
Trotz Natur und Kultur: Tourist sein in einem Land, in das sich normalerweise kaum ein Tourist verirrt, wird vor allem durch die Begegnungen mit den Menschen zum unvergleichlichen Erlebnis. Trotz der vielen eigenen Probleme, trotz Zeitungen und Fernsehen: In Bangladesch ist man neugierig auf die Welt draußen. Und man zeigt diese Neugierde.
Man zeigt auch, was man weiß. Autoren wie Hermann Hesse und Günter Grass werden gelesen. Es wird erwartet, dass man Rabindranath Tagore und möglichst auch Kazi Nazrul Islam kennt. Deutsche sollten sich vor der Reise über Subhas Chandra Bose informieren. Der bengalische Freiheitskämpfer agierte unter der Nazi-Diktatur von deutschem Boden aus. Gebildete Südasiaten gehen davon aus, dass man ihn kennt.
Wer im Urlaub Entspannung sucht, sollte vielleicht auf die Balearen oder nach Mauritius fliegen. Wer etwas erleben will, könnte sich auch für Bangladesch entscheiden - möglichst bevor die Touristen kommen.Bernhard Hertlein

Artikel vom 30.04.2005