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»Bonbons - man begreift das nicht!«

Jammern oder jubeln? - In der Bevölkerung herrscht diffuse Stimmung

Von Matthias Meyer zur Heyde
Bielefeld (WB). »Im Frühjahr 1945 waren die Bielefelder Bürger vor allem eines: total erschöpft.« Der Historiker Reinhard Vogelsang, langjähriger Leiter des Stadtarchivs, glaubt aus seinem Quellenstudium herauslesen zu können: In dem Maße, wie sich der Nebel der Kriegspropaganda lichtete, stellten Amerikaner und Briten fest, dass die Einheimischen »doch ganz nette Leute waren«.

Selbstverständlich weiß auch Vogelsang um Unbelehrbare und Revanchisten, nennt Ross und Reiter. Aber Nöte und Niederlagen hatten doch viele Überzeugte der ersten Tage eines Besseren belehrt. Nicht so leicht aus den Köpfen verbannen ließ sich, weil nicht originär der Lingua Tertii Imperii entlehnt, die Begrifflichkeit jener Jahre.
Ein Beispiel: Otto Tönsgöke, in Quelle noch heute als »Otto der Große« verehrt, hatte vor 1933 eine lupenrein »rote« Laufbahn eingeschlagen, unbeugsam auch in den Kerkern der braunen Diktatoren. Von den Siegern zum Gemeindedirektor ernannt, schrieb Tönsgöke 1947 an den Friedrich Karl Kühlwein, den Sammler von Augenzeugenberichten: »Verhalten der 200 Neger in Quelle bis auf einzelne Fälle von Vergewaltigungen einwandfrei.« Und dann: »Neger-Bastarde keine am Ort.«
Es sind solche Vokabeln, die die Spätgeborenen alarmieren. Der Rassismus-Vorwurf ist schnell erhoben, und bis zum »Nazi!«-Ruf ist es von dort nicht weit. Das Elend liegt eben auch darin begründet, dass sich der Nationalsozialismus ungeniert zahlloser Stereotypen bediente, die in allen Schichten, Gruppen und Parteien virulent waren, um sie im Exzess zu pervertieren. Egal, ob da nun am »teutschen« Wesen die Welt genesen sollte, ob man sich der Überlegenheit blonder Germanen erfreute, Dunkelhäutige argwöhnisch betrachtete oder zu Juden Distanz hielt.
Die einmarschierenden Truppen besaßen übrigens überraschend detaillierte Listen mit radikalen Hitleristen. »Die kannten ihre Pappenheimer«, sagt Vogelsang. Da nützte es Belasteten wie dem letzten NS-Oberbürgermeister Fritz Budde wenig, dass er sich auf dem Gelände der Anstalt Bethel zu verstecken suchte - interniert wurden sie doch.
Ohne erkennen zu geben, ob ihm dies willkommen gewesen wäre, hielt der Stadtverwaltungsrat Wilhelm Schwarze ein Gerücht vom Ostersonntag (1. April) fest, man solle die Bunker aufsuchen, denn »um 12 Uhr werde die neue Waffe eingesetzt.« Triumph im Endsieg oder Verzweiflung über die drohende Fortdauer des Massenschlachtens? Es wird nicht klar.
»Heute war im Wohnungsamt der erste aus einem K.Z.«, notiert Schwarze am 8. April. »Er will seit 1939 bis 4.8.44 in Sachsenhausen gewesen und dann ausgebrochen sein. Natürlich erzählte er viele schauerliche Einzelheiten. Man kann nicht glauben, daß diese Gräßlichkeiten stimmen.« Kühle Schreibe wider besseres Wissen? Oder Selbstschutz angesichts furchtbarer Ahnungen? Schwarze hatte eigentlich wenig Anlass, in seinem Tagebuch unehrlich mit sich selbst umzuspringen.
Weniger Rätsel scheint der Postoberinspektor Albert Netz aufzugeben - auch er führte Tagebuch, musste sich um die Außenwirkung seiner Eintragungen also nicht bekümmern. Am Ostermontag 1945 macht er sich über »verworrene« Durchhaltereden von Ortsgruppenleiter Siegfried Seyfert lustig (»2 Tage später ist er weg, wohin??«), am Osterdienstag staunt er über plündernde Nazis, »die früher 150 Prozent waren«. Am 4. April lüftet Netz die Maske einwenig: »Sogar Leute und Jungmädchen gehen zur Hindenburgstraße, um sich das [den Einmarsch] anzusehen, toll!!!« Dass sich die Jugendlichen »sogar« Bonbons und Schokolade geben ließen: »Man begreift das nicht!«
Einem Amerikaner gegenüber, der ihn nach dem Weg zum Sedanbunker an der Holländischen/Weißenburger Straße fragte, gab sich der von der Niederlage offensichtlich tief gedemütigte Netz als Ortsfremder aus, um ihm nicht helfen zu müssen. Die bedingungslose Kapitulation zehrte am Selbstwertgefühl.
Dass sich manch Bielefelder auch noch viel später schwer tut mit der Bewertung der damals handelnden Personen, zeigt sich im Falle des Brackweder Bürgermeisters Hermann Bitter. Vielen gilt er - bis heute -Ê als Held, weil er am 2. April die Panzersperren öffnen ließ und dafür tags darauf hingerichtet wurde. Dass Bitter sich sein Amt zwölf Jahre zuvor mit Lug und Betrug, mit Wahlfälschung und Denunziation erschlichen hatte, musste Brackwede inzwischen »vergessen« haben.
Unsicherheiten bleiben. Vielleicht traf ja der Mittelschulrektor Fritz Engelken die Stimmung recht gut, als er an Kühlwein schrieb: »Über allen lag die dumpfe Erwartung einer grundlegenden Änderung der Verhältnisse und gleichzeitig das Gefühl der Ohnmacht.«
Am Dienstag lesen Sie: Mit Hochdruck arbeiten Sieger und Besiegte am Wiederaufbau. Mühsam - aber erfolgreich.

Artikel vom 21.04.2005