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Der Drucker Wolfgang Brömmelsiek (75) musste bereits vor dem Kriegsende schweres Leid ertragen. Foto: Meyer zur Heyde

Spitzel gegen Fälscher,
Räuber gegen Klauer

Wolfgang Brömmelsiek rechnet mit der NS-Zeit ab

Von Matthias Meyer zur Heyde
Bielefeld (WB). »Ich glaube, ich bin der einzige Bielefelder, der vom Einmarsch der Amerikaner nichts mitbekommen hat.« Wolfgang Brömmelsiek, 15 Jahre alt, Vollwaise, musste als Druckerlehrling schwer schuften - übrigens schon, als Gleichaltrige noch die Schulbank drückten.

Brömmelsieks Vater, der den Anthroposophen nahestand, war im Oktober 1942 in der Heilanstalt Dortmund-Aplerbeck ermordet worden; die Mutter fiel dem verheerenden Bombenangriff am 30. September 1944 zum Opfer. Anfang jenen Jahres war Brömmelsiek junior aus der Schule geflogen, weil er morgens »von der falschen Seite« kam.
Ursprünglich hatte Brömmelsiek die Diesterwegschule besucht, die jedoch, wie die anderen Bielefelder Volksschulen wegen der Kinderlandverschickung schloss, so dass der damals 13-Jährige nach Gadderbaum wechselte. Das durfte man wegen der überfüllten Klassen aber nur als Ortsansässiger, also quartierte sich der Junge bei den am Eggeweg wohnenden Großeltern ein - nur pro forma, denn er wollte seine damals noch lebende Mutter nicht alleine lassen.
»Ein Lehrer, ein 150-Prozentiger, ließ mich bespitzeln, von wo ich zum Unterricht anrückte«, erzählt der heute 75-Jährige. »Und als ich einmal zu oft aus Bielefeld gekommen war, wurde ich im Januar 1944 der Schule verwiesen.« Eine Katastrophe, denn ohne Abschluss sah die Zukunft düster aus. Mit viel Glück kam Brömmelsiek bei Innungsmeister Bentrup an der Gneisenaustraße, im Offsetdruck, unter.
»Die letzten Kriegsmonate waren ernährungstechnisch eine Katastrophe«, schreibt der Pensionär in seinen Erinnerungen. Zwar wurden Lebensmittelkarten ausgegeben, aber: »Die Karten blieben gleich, nur die Portionen wurden kleiner. Wenn auf der Karte nichts mehr drauf war, hattest du für diesen Monat genug gegessen.«
Überflüssig zu sagen, dass das Geld - 12,50 Reichsmark Vollwaisenrente plus 25 RM Erziehungsbeihilfe (Lehrlingsgehalt) - hinten und vorne nicht reichte. »Von meiner Umgebung geprägt, lernte ich lügen, stehlen, betrügen, fälschen (Lebensmittelkarten), Kohlen klauen, Kartoffeln ausgraben, Zuckerrüben entwenden, Rapsrispen abschneiden, Ähren sammeln.« Zu Hause wurde das Korn gedroschen, in der Kaffeemühle geschrotet und Milchsuppe davon gekocht.
Jede Woche: 40 Stunden Lehre, am Samstag Hamstertour - und wenn der Junge heimkam, machte sich die Verwandtschaft über die wenigen Schätze her. Schonungslos zieht Brömmelsiek jener Zeit die Maske vom Gesicht: »Rundumverteidigung gegen alle und jeden. Liebe, Freundschaft und alle sonstigen moralischen Werte waren dem Egoismus untergeordnet.« Um an jener Zeit nicht irre zu werden, las der Junge, was ihm in die Hände fiel.
Einmarsch der Sieger: nicht mitgekriegt. Nur bei Fliegeralarm ließ man die Arbeit im Stich, und die GIs kamen ja auf dem Landweg . . . Das Militär, Nazipropaganda vor dem geistigen Auge, verbot ohnehin sofort jede Tätigkeit im Druckgewerbe. Eines Tages machte sich der Junge auf zu einer Fahrt, die er um ein Haar mit dem Leben bezahlt hätte.
»Im Mai '45 bin ich zum Dümmer geradelt, wo mich mein Onkel, der auf meine Lebensmittelkarte spekulierte, bei einem befreundeten Bauern unterzubringen gedachte.« Bei Bünde: Straßensperre. Fünf uniformierte Polen, befreite Zwangsarbeiter, betrunken, bewaffnet. »Ein Gewehr wurde mir zwischen Brustbein und Nabel gepresst.« Brömmelsieks Koppel: hakenkreuzgraviert. Die alte Grußpostkarte in der Brieftasche: mit »Heil Hitler« unterzeichnet.
Das bedrohliche Quintett beließ es bei Raub: Brömmelsiek gab das Fahrrad her und rettete die Uhr, ein in Gold gar nicht aufzuwiegendes Erbstück des Vaters.
Den Sommer 1945 überstand der Junge bei harter Feldarbeit und karger, aber hinreichender Kost. »Die Rüben, die Rüben, die haben mich vertrieben, hätt' meine Mutter Fleisch gekocht, wär' ich zu Haus geblieben«, zitiert Brömmelsiek einen von verzweifeltem Humor getränkten Vers von damals.
Zurück in Bielefeld, fälschte er Marken und wurde geschnappt. Jugendstrafe: vier Wochenenden Karzer. »Die hab ich beim Hausmeister des Landgerichts auf einem Sofa im Keller, nicht in der Zelle, abgesessen.«
US-Soldaten? »Ja, meinen ersten Neger habe ich in einem Camp oberhalb der Martinikirche gesehen. Der fragte, wo er wohl Rehe schießen könnte. Aber es gab keine Rehe mehr.«
Es gab überhaupt sehr wenig damals.
Am Donnerstag lesen Sie: Was lässt sich über die innere Haltung der Einheimischen sagen? Nazis? Indifferente? Demokraten?

Artikel vom 19.04.2005