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Mit Ice Cream
auf die Bühne

Jazz-Legende Chris Barber wird 75

Von Annette Streicher
London (dpa). Frauen trugen noch keine Jeans, die Welt verehrte Marilyn Monroe, und chic war, wer Roller fuhr - zu dieser Zeit kaufte der junge Jazzmusiker Chris Barber eine Schellack-Platte mit dem 20er-Jahre-Hit »Ice Cream« auf der Rückseite.

Begeistert von der Instrumentalaufnahme, spielte er das Stück im Tonstudio mit seiner Band nach und ließ den Trompeter Pat Halcox ein paar einfache Textzeilen improvisieren - geboren war der Riesenhit »Ice Cream«. Am Sonntag wird Chris Barber 75 Jahre alt. Und noch immer lässt sein Publikum ihn nicht ohne »Ice Cream« von der Bühne.
Nach eigener Schätzung hat Barber den Gassenhauer in seiner Karriere etwa 20 000 Mal gespielt. Barber marschiert schon seit mehr als 50 Jahren auf die Bühne. Am 31. Mai 1954 hatte seine Band ihren ersten Auftritt. Schon damals wusste er: »Wir wollen spielen, spielen, spielen.« Ob er die leiseste Ahnung hatte, dass er mit seinem Jazz im traditionellen New-Orléans-Stil 12 000 Konzerte weltweit geben und mit Mitte 70 immer noch auf der Bühne stehen würde? Dass er mit seiner Band gut 100 Langspielplatten aufnehmen und für »Petite Fleur« mit Monty Sunshine die goldene Schallplatte erhalten würde?
Das Geheimnis des 1930 im Südosten Englands geborenen Künstlers, der erst Rennfahrer werden wollte, liegt wohl darin, dass er immer wieder andere Stilrichtungen in den traditionellen Jazz integrierte: In den 50er Jahren verfiel der Musiker, der selbst Geige, Bass, Saxofon und Posaune spielen kann, hoffnungslos dem Blues und heiratete auch eine Blues-Sängerin, Ottilie Patterson.
In den 70er Jahren experimentierte er mit östlichen und folkloristischen Musikstilen. Auch mit Rockmusikern pflegte er freundschaftliche Kontakte, ebnete als Mitinhaber des legendären Londoner Marquee-Clubs den Rolling Stones und den Yardbirds den Weg. Mark Knopfler von den Dire Straits und Eric Clapton soll er maßgeblich beeinflusst haben.
Es passt zu dem Jazzposaunisten der alten Schule, dass er seine Band 2001 im Alter von 71 Jahren noch einmal umwandelte - in die Big Chris Barber Jazz & Blues Band mit nunmehr elf Musikern. Mit einem volleren Klang wollte er seinem großen Idol Duke Ellington näher kommen. Seinen 75. Geburtstag feiert Chris Barber übrigens mit seiner Band und seinen Fans in Deutschland, im Konzerthaus in Ravensburg.
Danach wird den ganzen April lang weiter gespielt - unter anderem in Augsburg, Bamberg, Darmstadt, Borken/Westfalen, Jever und Münster.
Zeit zum Ausruhen findet der Ehrenbürger der Jazz-Hauptstadt New Orleans vielleicht nach dem Ende der Tournee auf seiner Farm in der Nähe Londons, wo er mit seiner jetzigen Ehefrau, einer Kunsthistorikerin, lebt. Neben Jazzplatten aus Schellack, Jugendstilglas und alten Modelleisenbahnen sammeln die Barbers auch amerikanische Eiskremgläser aus den 20er Jahren.

Artikel vom 16.04.2005