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»Diese ÝFreiheitÜ hat uns wenig gefallen«

April 1945: Recht und Unrecht in gesetzloser Zeit

Bielefeld (WB). Jene Zeit, in der die amerikanische Militärmacht das NS-Regime hinwegfegte, waren Tage und Wochen der Wildheit. In ihnen wurde die dunkle Seite der menschlichen Seele schlaglichtartig beleuchtet. Es ist nicht einfach, die Erinnerung der Zeitgenossen an den April 1945 korrekt zu verorten.

Das am 2. April befreite Kriegsgefangenenlager Stalag 326 VI K bei Stukenbrock war »ein Ort voll Dreck und Elend, so abstoßend, dass sich einige unserer Soldaten übergeben mussten«, zitiert der Bielefelder Historiker Hans-Jörg Kühne einen US-Offizier. Wer unter den GIs die Deutschen bislang nicht hasste, hasste sie jetzt.
Kein Verbrechen legitimiert späteres Unrecht. Aber ist Rache nicht typisch menschlich?
Die halb verhungerten Zwangsarbeiter fanden nach ihrer Befreiung keine funktionierende Lebensmittelversorgung vor. Kann es da ernstlich verwundern, wenn sie raubten und plünderten?
Die bittere Erkenntnis, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf sei, wurde bereits in der römischen Antike formuliert. Denn nehmen sich die Sieger nicht stets das Recht des Stärkeren heraus? Und hat sich der Unterlegene nicht immer mit moralischen Argumenten gewehrt? Und sei es nur, um eigene Fehler und die Ohnmacht leichter ertragen zu können? Hören wir noch einmal Ubbedissens Chronist Rudolf Weithöner: »Es war kein Ruhm, die deutsche Wehrmacht mit der Gewalt des Übermaterials zu schlagen, kein Beweis von menschlichem Empfinden, die Städte und Dörfer mit Spreng- und Brandbomben zu zerstören, keine ehrliche Haltung des Eroberers hinauszuposaunen, daß er nicht als Unterdrücker, sondern als Befreier komme. Diese Art von ÝFreiheitÜ hat uns wenig gefallen.«
Übergangszeiten, in denen das Alte tot ist, das Neue aber zivilisierte Formen noch nicht gefunden hat, spülen auch Hasardeure nach oben. Von zwei berüchtigten Fällen sprechen die Quellen.
Aus Brackwede berichtete der kommissarische Amtsdirektor Adolf Tjaden von dem »Gewohnheitsverbrecher« Radtke, der, aus dem Zuchthaus in Werl freigekommen, die Bürger terrorisierte. Er schmeichelte sich bei den Besatzern ein und »beschlagnahmte«, bewaffnet mit Pistole und Peitsche, alle erreichbaren Wertgegenstände. Als selbsternannter Robin Hood verlangte er Geld und verteilte es an Einheimische und Durchziehende.
Mehrere Wochen lang trieb Radtke, der inzwischen auf Kosten der Bürger in Senne II eine Waise geheiratet hatte, sein Unwesen. Ein französischer Zivilarbeiter, der behauptete, in Werl Radtkes Zellengenosse gewesen zu sein, öffnete schließlich den Siegern die Augen. Tjaden hörte später, der Unhold sei in Sicherungsverwahrung genommen worden.
Aus Jöllenbeck schrieb der vom englischen Lieutenant Colonel Robert E. Moffet am 27. April zum »Amtsburgomaster« ernannte Heinrich Deuker Anfang 1948 an den Quellensammler Friedrich Karl Kühlwein, dass sofort nach dem Einmarsch der Amerikaner ein aus Herford Evakuierter namens Erich Völkl, von Geburt ein Bayer, »die Macht an sich« riss. Der 25-Jährige setzte 15 Bekannte als »Hilfspolizisten« ein, von denen später drei zum Tode und einer zu lebenslanger Haft verurteilt wurden. Völkl selbst wurde, nachdem ehrenwerte Jöllenbecker endlich bei den Siegern Gehör fanden, wegen Urkundenfälschung und Amtsanmaßung zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt; er starb in der Haft.
Nach so viel Ernst eine Schmonzette zum Abschluss: Von den in Senner Schulen einquartierten farbigen Soldaten haben wir bereits gesprochen. Einer ihrer Befehle lautete, NS-Propagandamaterial aufzuspüren. Sie fanden eine Schulchronik, eine Kladde in »Geheimschrift« - in Sütterlin.
Einer der GIs kritzelte auf das Etikett der Kladde (die ironischerweise bereits im Jahr 1930, lange vor der Machtergreifung, abbricht) das alarmierende Wort »Hitler«. Und weiter hinten notierte der gute Mann, der englischen Orthographie und Interpunktion nicht ganz mächtig, seine Sicht auf die Deutschen im Allgemeinen und den Krieg im Besonderen:
»The next time I come her I don't want to find all of this sugar shit her
for stand
U.S.A. army is a bitch
for stand
You peoples crazy over here
dam fighting all the time
line at ease
some time will you please
for stand
don't let this happen any more
if you do every German is going to die
for stand
So be carfull from now on. May be sure to do that
for stand
So take it easy let's be friends
Nixe machen Parade«
Also ungefähr: Nächstes Mal, wenn ich hierher komme, möchte ich solchen Blödsinn nicht mehr vorfinden. Die US-Armee kann da ganz schön kiebig werden, for stand? (lautmalerisch für »verstanden?«) Ihr Leute hier seit doch verrückt, habt nur Krieg im Sinn. Rührt euch! (militärischer Befehl) In Zukunft - verstanden? - lasst das bitte sein. Wenn nicht, wird jeder Deutsche sterben. Verstanden? Also seid jetzt bloß vorsichtig. Stellt sicher, alles zu tun wie besprochen. Verstanden? Also nehmt es uns nicht krumm, lasst uns Freunde sein. Nicht immer im Stechschritt!
Hübsch formuliert, oder?
Am Dienstag lesen Sie: Wolfgang Brömmelsiek, damals 15 Jahre alt, erzählt von ersten »Friedenstagen«. Eine zivile Verwaltung wird etabliert.

Artikel vom 14.04.2005