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Siegermächte bestrafen
»die bösen Deutschen«

Zivilbevölkerung war ohne Schutz für Leib und Leben

Bielefeld (WB). Der Krieg hat seine Schrecken nicht nur für die Soldaten - wer wüsste das besser als die deutsche Zivilbevölkerung. Und wer über das furchtbare Jahr 1945 berichten will, darf die Augen auch vor Plünderung und Vergewaltigung nicht verschließen.

An dieser Stelle wurde bereits erwähnt, dass es Deutsche waren, die in jenen Tagen, als das Chaos entfesselt wurde, Luftwaffenbekleidungsamt (3. April) und Heeresverpflegungsamt (4. April) aufbrachen und das Diebesgut zum Teil mit Pferdefuhrwerken abtransportierten: »Bilder wildester Verkommenheit« habe er dort gesehen, schrieb Stadtinspektor Temme an den General a.D. Friedrich Karl Kühlwein, der im Auftrag des Historischen Vereins Augenzeugenberichte sammelte.
Die Quellen, die das Stadtarchiv aufbewahrt, sprechen eine deutliche Sprache: An den Ausschreitungen beteiligten sich drei Personengruppen. Zum einen Deutsche (Einheimische auf der einen, Tausende entwurzelte Existenzen, zumeist aus dem Ruhrgebiet stammende Evakuierte, auf der anderen Seite), zum anderen die US-Soldaten, die der kämpfenden Truppe nachfolgten (zum größten Teil Farbige), und schließlich die befreiten Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen (etwa 17 000).
Die Senne im Süden wurde als erstes heimgesucht. Die Zivilbevölkerung wurde in die Keller geschickt, damit die US-Army die Häuser nach Waffen durchsuchen konnte. »Dabei nahmen sie den Leuten Eier, Fleischvorräte, Uhren, Schmucksachen und vereinzelt auch Bargeld weg«, schreibt Wilhelm Spellmann in der Senner Gemeindechronik.
Nach der Befreiung der Gefangenen und Zwangsarbeiter »begann ein Rauben und Plündern, wie es die Senne noch nie gesehen hat. In den ersten 14 Tagen des Zusammenbruchs ist in der Senne mehr gestohlen worden als in den letzten 100 Jahren. Tagelang bewegten sich die Spitzbuben mit ihrem Diebesgut auf den Landstraßen. Am traurigsten war es, sehen zu müssen, daß deutsche Volksgenossen sich nicht schämten, bei den Plünderungen mitzumachen.«
Die Überfälle dauerten bis zum Herbst an. Die deutsche Hilfspolizei war ohne Waffen und deshalb zur Ohnmacht verurteilt. Karl Beckmann, Schriftleiter der »Brackweder Heimatblätter«, vermutete vor zehn Jahren, es habe Anzeichen dafür gegeben, dass die Besatzungsmacht die Zügel absichtlich schleifen ließ. Amerikaner und später die Engländer hätten die gewaltsamen Übergriffe wohl bewusst geduldet: »Man hat damit Ýdie bösen DeutschenÜ vielleicht bestrafen wollen.«
Verräterisch die Antwort, die Bielefelds englischer Stadtkommandant MacOlive gab, als die Stadt ihn bat, das Militär möge gegen die Gewalt einschreiten: Er bemerkte, »daß wir ja 15 Millionen Russen nach hier geholt hätten«, erinnert sich Stadtverwaltungsrat Wilhelm Schwarze.
Ein eigenes Kapitel widmet Spellmann den »Ausschreitungen der Neger«. Ein Kommando Farbiger, das, einquartiert in der Buschkampschule, einen Soldatenfriedhof anlegte, erhielt »reichlich Alkohol« dafür. »In ihrer Trunkenheit begingen die Neger, die in nüchternem Zustande ziemlich harmlos waren, zahlreiche Vergewaltigungen an Senner Frauen und Mädchen, die gesundheitliche Schädigungen, in einem Falle sogar den Tod zur Folge hatten.«
Einige Zeitzeugen aus Brackwede schürften tiefer. Brackwedes kommissarischer Amtsdirektor Adolf Tjaden, zugleich Chef der hilflosen Ortspolizei, ging bei Kriegsende von 4000 bis 5000 Zwangsarbeitern aus; hinzu kamen knapp 2000 ortsfremde Ausgebombte - und die ersten 300 Vertriebenen. Tjaden glaubte, dass nicht jede angezeigte Vergewaltigung auch eine war: »Die Amerikaner unterhielten zwei Freudenhäuser, das eine im Keller der Mittelschule [Germanenstraße, heute: Stadtteilbibliothek], das andere bei Ruhrstahl.« Mittelschulrektor August Franken ergänzte 1947: »Das Verhalten der weiblichen Bevölkerung war würdelos. Die Schule an der katholischen Kirche war zum Freudenhaus geworden, in dem Unzucht getrieben wurde.« Einmal nahm man sieben deutsche Frauen fest, die mit farbigen GIs in Brackweder Betrieben genächtigt hatten.
Julius Weber aus Brackwede notierte nach dem Krieg, dass viele Frauen, vor allem die entwurzelten Ausgebombten, für Schokolade und Kaffee fraternisierten: »Man muß also sehr vorsichtig sein, wenn man von Vergewaltigungen spricht.«
Auch dafür, dass das Sittengemälde jener Zeit nicht schwarz in schwarz gemalt werden muss, nehmen wir den aufrechten Sozialdemokraten gerne als Gewährsmann: Weber erzählte, viele Brackweder Zwangsarbeiter hätten sich oft frei bewegen dürfen. Sie wurden in Kinos und Kneipen gesehen und benutzten die Straßenbahn. Zerlumpte russische Frauen wiederum hätten von den Brackwedern Kleidung und Schuhe erhalten.
Eine Vermutung, warum sich die Bevölkerung oft barmherzig verhielt, liefert Weber gleich mit: Brackwedes Arbeiter seien »seit langem durch die Schule der Gewerkschaften gegangen.« Wunderschön. Aus ländlichen Ortschaften wie Jöllenbeck, gewiss keine Gewerkschaftshochburg, werden allerdings ähnliche spontane private Hilfsaktionen berichtet . . .
Am Donnerstag lesen Sie: Die gesetzlose Zeit spült allerlei Gelichter nach oben. Und: Ein Besatzungssoldat hinterlässt eine höchst skurrile Notiz.

Artikel vom 12.04.2005