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Titanic-Effekt sorgt
für starke Emotionen

Beethovens Fidelio in Bielefeld begeistert aufgenommen

Von Uta Jostwerner
Bielefeld (WB). Leonore ist alt geworden. Ergraut und die Haare zum Knoten gebunden, sitzt sie in Bielefelds Fidelio-Inszenierung und bedauert, dass Idealismus und Glaube so wenig Spuren hinterließen. Ihr, den Sängern, Musikern und dem gesamten Inszenierungsteam galt der gewaltige Applaus, der nach gelungener Premiere in der Oetkerhalle aufbrauste.

Einen Zeitzeugen seine Geschichte im Rückblick erzählen zu lassen, ist ein geschickter Regiestreich, den sich schon James Cameron 1997 bei seinem Kinofilm »Titanic« zueigen machte. Nur ein Jahr später übertrug der Opernregisseur Alexander Schulin die Erzähltechnik auf eine Fidelio-Inszenierung unter Daniel Barenboim in Chicago: Die alt gewordene Leonore blickt nach Jahrzehnten zurück und erinnert sich an die emotional bewegenden Tage im Dienste des Kerkermeisters Roccos, an die Ungewissheit und Angst um ihren Gatten Florestan, der zu Unrecht von dem Tyrannen Pizarro gefangen gehalten wurde und getötet werden sollte, weil er für Wahrheit und Freiheit eintrat.
Eine Schauspielerin entsprechenden Alters und der die Operndialoge ersetzende Sprechmonolog des palästinensischen Kulturwissenschaftlers Edward W. Said schaffen von Anfang an eine beklemmende, packende Atmosphäre, eine Betroffenheit und Gegenwärtigkeit von starken Emotionen, die diese Operninszenierung am Theater Bielefeld durch Alexander Schulin (Regie), Sandra Meurer (Bühne und Kostüme) und -ĂŠkongenial im Bunde - Kevin John Edusei, Bielefelds neuem ersten Kapellmeister, auszeichnet.
»Die Willkür der Macht lastete auf uns wie ein Fluch«, sagt Eleonore. Ihre in Rot getauchte Rettungsinsel verkörpert die Realität und ist umgeben von einem grauen Erinnerungsmeer aus nummerierten Bürokartons. Auf diese Weise schafft Meurer nicht nur zwei getrennte Zeit- und Spielebenen, sondern spielt auch auf einen bürokratisierten Zwangsapparat an. In den wenigen Momenten, in denen sich die Ebenen vermischen, könnte man Heulen, so ergreifend wirkt das Schicksal, welches in Bielefeld pars pro toto daher kommt.
Denn auch im 21. Jahrhundert sind in vielen Teilen der Erde die Ideale der Oper keineswegs selbstverständlich, sondern gehören politische Gefangene sowie Folter zur traurigen Realität. In der Ausstattung nimmt die Inszenierung Bezug auf aktuelle Unrechtsregime wie auch zurückliegende Diktaturen. So spielen die in Orange gekleideten Gefangenen auf die Kombattanten in Guantanamo an, und für die Figur des Don Pizarro (stark: Alexander Vassiliev) scheint Mussolini Pate gestanden zu haben. Ansonsten bestimmt kühle Geschäftigkeit das Bild, das sich mehr und mehr verdichtet und dramatisch zuspitzt.
Einen Löwenanteil daran trug das Philharmonische Orchester, das unter Eduseis sensiblem und intelligenten Dirigat pulsierend dynamisch und artikulationsgeschliffen aufspielte, dramatische Spannung ebenso kannte wie getragene Melancholie und triumphale Leichtigkeit. Der Zwischenruf eines Premierenbesuchers, die Musik atme nicht, war ebenso deplatziert wie haltlos und brachte Bielefelds jungem Kapellmeister nur noch mehr Sympathien ein.
Die Gesangssolisten: Allesamt eine Offenbarung. Zu vorderst Kirsten Blanck, die als Leonore dramatische Strahlkraft und Leidenschaft vereinte und im Duett mit Norbert Schmittberg (Florestan) zu wahrer Größe auflief. Helga Uthmann als gealterte Leonore verstand es, die Erinnerung an erlittene Seelenqualen sehr einfühlsam zu vergegenwärtigen.

Artikel vom 12.04.2005