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Die selbst auferlegte Disziplin war weitaus strenger gewesen, als es die Umstände erforderten. Ihre Bewegungen außerhalb hatten sie auf ein Minimum beschränkt, die Räume Tag und Nacht besetzt gehalten und die Einbruchssicherungen an der Außentür perfektioniert. Obwohl das Dollar-Versteck gut gewählt war, wuchs ihr seelisches Wohlbefinden mit jedem Tag, an dem der Berg von Banknoten kleiner wurde.
Letzteres hatte jener bald getan, und zwar mit jeder Reise, die Livia und Duncan abwechselnd und auf den unterschiedlichsten Wegen in das Land der Safes und Nummernkonten nördlich der italienischen Grenzen unternahmen.
Doch am Ende war ihnen der Wettlauf mit der Zeit gelungen. Mitte April hatte Livia eine Vorladung von Commissario Metelli nach Venedig erhalten.
Wie sich herausstellte, war in ihrer Abwesenheit auch die Wohnung in der Corfù Gambara ein zweites Mal durchsucht worden. Livia konnte Metelli jedoch glaubhaft versichern, dass sie nicht nur von allen Machenschaften Angelos, sondern auch von ihm selbst endgültig befreit sein wollte. Als Beweis konnte sie anführen, dass sie schon im Herbst letzten Jahres die Scheidung eingereicht hatte. Am Ende hatte sie den Eindruck, dass Metelli fast Mitgefühl für sie entwickelt hatte É
Und natürlich gehörte auch das Zeitungsstudium zu ihrer täglichen Routine. Eine kleine Notiz, wenige Tage nach Angelos Verhaftung, hatte sie darüber in Kenntnis gesetzt, dass in einer Hehlersache das Sonderdezernat 613 des Kriminalamtes Mailand, befasst mit Kunst und Antiquitäten, italienweit ermittelte. Die gleiche Spezialdiensstelle, so hatten sie lesen können, hatte kurz zuvor einen Händlerring in Mailand zerschlagen. Betitelt war der Beitrag: Es wird gefälscht wie noch nie! Darunter stand süffig das Zitat eines Commissario: Gleich zweimal derselbe Tintoretto É Von einem Velázquez freilich war nirgendwo die Rede gewesen.
Zwischen der Verhaftung Angelos bis zum Tag der Prozesseröffnung waren keine fünf Monate vergangen. Sechs Männer waren angeklagt worden. Allesamt Kunsthändler aus der Mailänder Halbweltszene.

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hr alter Freund Silberschopf war freilich nicht darunter gewesen; wahrscheinlich war er zu klug, um sich fangen zu lassen. Aber als der ganz große Fachmann hatte er sich am Ende dann doch nicht erwiesen.
Die Zeitungen hatten ausführlich berichtet. Es ging insgesamt um mehr als eintausend gefälschte Objekte, die als Originale von einem Hehlerring in den vergangenen Jahren Käufern angeboten worden waren. Der Schaden war umgerechnet auf mehrere Millionen Dollar geschätzt.
Der Zorn des Gesetzes traf Angelo besonders hat. Der Staatsanwalt hatte ihn als einen der gerissensten Hehler in der Szene bezeichnet. Sieben Jahre ohne Bewährung lautete der Urteilsspruch. Nun, da er ein Gescheiterter und Verurteilter war, hatte Livia für Angelo nur noch Mitleid übrig.
»Jetzt ist er nichts als ein Krimineller, für den Rest seines Lebens É«, hatte Duncan das Urteil kommentiert.
In den Atelierräumen der National Gallery in London hatte sich wenig geändert. Hier schien die Zeit stehen geblieben zu sein. Der Geruch von Terpentin und Leinöl lag in der Luft, nur stieg er diesmal nicht von den silbrigen, roten und blauen Farben VelazquezÕ auf, sondern von Leinwänden von Guardi und Canaletto, die die heitere Atmosphäre Venedigs in das Londoner Ambiente abstrahlten.

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s war Mittagspause, und der Restaurator Helmut Ruhemann war der Einzige, der sich hier aufhielt. Er saß über einen Tisch gebeugt. Doch das, was er mit größter Spannung betrachtete, war kein Gemälde. Es war ein speckiger, weißlederner Bucheinband um ein Konvolut von großenteils nur lose einliegenden, braunen und fleckigen Papierblättern.
Ruhemann schlug den Deckel bedächtig auf. Er nahm ein obenauf liegendes Kuvert heraus, das an ihn adressiert war. Er legte den Brief zunächst zur Seite, da eine bräunlich verblasste Schrift in feinen, fließenden Kursiven auf den Buchseiten seine ganze Aufmerksamkeit fesselte. Es waren spanische Wörter und Sätze, aber ein altertümliches, in seiner Formulierung schwer verständliches Spanisch, das er nicht einfach herunterlesen konnte.
Deshalb wandte er sich dem Kuvert zu und entnahm diesem den einliegenden Brief und las:
Sehr verehrter großer Meister,
dafür, dass Sie mich auf die Spur des großen Diego Velázquez gesetzt haben, sende ich Ihnen sein in Teilen erhaltenes Tagebuch als Dankgeschenk. Es erzählt die Geschichte seiner Reise zu der wirklichen Venus, bei der er nicht bleiben durfte, aber deren Schönheit Sie wieder ans Licht geholt haben! Die Aufzeichnungen habe ich mithilfe einer schönen Frau gefunden, die aus VelázquezÕ Bild entstiegen sein könnte. Ich habe das Glück, dass mich kein König nach Spanien fortrufen kann. Und mein weiteres Glück ist, dass mir eine besonders gelungene Kopie nach Velázquez einen langen weiteren Aufenthalt in Italien ermöglicht.
Ich denke mit Dankbarkeit an Sie und grüße Sie herzlich,
Ihr Duncan Munro
Den Blick immer noch auf das Papier geheftet, stürmte der alte Restaurator hinaus zu Delia.
»Stellen Sie sich vor, was ich bekommen habe!«, rief er aus. »Einen Brief von Duncan Munro und ein Originalmanuskript É«
Erst jetzt, als er aufblickte, sah er, dass irgendetwas in dem Büro anders war als sonst. In der Prunkvase, die sonst Plakatrollen und Einwickelpapier beherbergte, prangte ein Bukett aus den prächtigsten Blumen, die seit langem in den Mauern dieses Hauses gesehen worden waren, ein einzigartig schöner, großer Blumenstrauß.
Delia saß da, und schien ihm gar nicht zugehört zu haben. Ihre Augen, in denen es verdächtig schimmerte, starrten ins Leere. Waren es Tränen der Freude oder der Trauer?
Ein Zettel flatterte zu Boden. Ruhemann hob ihn auf. Mit gefurchter Stirn las er das einzige Wort, das darauf stand:
Raffael.
Duncan schnupperte Livias Parfum in ihren Haaren, das er so liebte.
»Bist du glücklich?« flüsterte sie, während Duncan sie streichelte.
»Die Gefühle haben sich nicht verändert É nur ist aus dem Sturm inzwischen ein Orkan geworden. Doch wir haben eine geschützte Bucht gefunden, mein Engel. Den schönsten Ankerplatz auf dieser Welt.«

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ivia drehte sich um und schlang ihre Arme um Duncans Hals. »Halte die Uhren an, damit die Zeit nicht davonläuft und uns mit ihrem Ticken stört.«
»Manchmal, mein Engel«, sagte er und hielt sie fest, »möchte ich auch alle Gedanken anhalten, damit das Glück uns nicht davonläuft und keine Fragen stellt.«
Wind kam auf und zauste ihr Haar, als Duncan sie an sich drückte. Ein zerrissener Morgenhimmel warf blasse Muster aus Schatten und Schimmer auf die Zypressen, mit Kronen scharf umrissen wie Scherenschnitte. Der Gesang der Vögel hob an. Die Natur erwachte durch das Licht.
»Gleich ist es so weit. Wollen wir?«
Das Firmament änderte rasch die Färbung. Gleich einer friedlichen, in Orange und Gelb getränkten See mutete nun die Morgendämmerung an. Eine Botschaft von Erhabenheit und Harmonie.
»Ja, jetzt ist das Licht richtig.«
Langsam schob sich eine helle Sichel im Osten über den Horizont, als wollte sie ein Lichtfenster ins Unendliche auftun. Die Farbpalette am Himmelsdach änderte sich rasch. Unablässig stieg die orangefarbene Flut höher.

Bedächtig hoben sie den schweren Rahmen an und hängten das Gemälde an die Wand. Im gleichen Augenblick wurde der Raum in das orange Licht der aufgehenden Sonne getaucht. Beide traten zurück und standen eng umschlungen beisammen.
Selbstverständlich und ungekünstelt lagerte die wunderschöne Frauengestalt vor ihnen. Ihre helle Haut leuchtete, und die weiche Modellierung ihres grazilen Körpers, der Rundung ihrer Schultern, ihrer Brust, der zarten Wölbung von Bauch und Schenkeln war zu spüren, obwohl der Schwung der Pinselführung die lichten Farben als einen rhythmischen Reigen auf der Bildfläche erscheinen ließen. Flaminia war körperlich da und doch nur ein Gewebe aus Farbstreifen.
»Blickt sie uns an?« fragte Livia.
»So direkt und so deutlich«, sagte Duncan, »wie sie den Maler ansah.«
»Ich glaube, der Maler hat ihre Augen in diesem Licht studiert«, bemerkte Livia.
»Ja, sie strahlen so wärmend, so hell und kraftvoll wie die aufgehende Sonne.«
Duncan blickte sie an: »Ob in ihren Augen oder in den deinen - ich sehe alle Liebe der Welt darin. Doch bei dir entdecke ich noch das Licht des Glücks.«
»Diego É«
»Flaminia É«
(Ende)

Artikel vom 11.05.2005