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Geradeaus befand sich das scheußliche Wohn- und Esszimmer. Gleich daneben befand sich Angelos chaotisches Arbeitszimmer und hinter der Tür, gleich rechts neben dem Eingang, das Schlafzimmer mit den ungemachten Betten.
Livia ergriff die Initiative: »Kein Licht! Erst ziehen wir die Vorhänge dicht.«
Wenig später schaltete sie im Flur das Licht an. Als erstes nahmen sie sich das Wohnzimmer vor. Doch schon nach wenigen Augenblicken war ihnen klar: Das Bild konnte unmöglich hier verborgen sein. Allein die Größe machte ein Verstecken in diesem überschaubaren Zimmer unmöglich.
»Komm, lass uns gehen!« drängte Duncan. »Hier ist nichts!«
»Sei nicht so ungeduldig«, erwiderte sie gereizt. »Du kannst sicher sein, wir finden etwas, was uns weiterhelfen wird. Ich spüre es É«

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ivia öffnete die Tür zum Arbeitszimmer. Der Schreibtisch war leer, die Aktenordner fehlten komplett. Langsam bemächtigte sich ihrer eine deutliche Enttäuschung. Dennoch öffnete sie entschlossen die nächste Tür und betrat das Schlafzimmer. Die Wand, an der noch vor Monaten Der rote Akt von Amedeo Modigliani gehangen hatte, war nackt. Nur die ungemachten Betten erinnerten sie an ihre letzte Visite. Die Tür zum Badezimmer war diesmal angelehnt. Livia wollte das Schlafzimmer schon verlassen, als sie plötzlich wie angewurzelt stehen blieb. Für einen Moment geriet sie ins Grübeln. Etwas war hier verändert worden.
Was war es nur?
Ihr Blick fiel auf den Kleiderschrank. Ja, die geteilte Schranktür! War sie nicht von oben bis unten verspiegelt gewesen? Die Entdeckung trieb ihren Blutdruck nach oben. »Duncan! Komm schnell!« rief sie in den Gang hinaus.
Als er das Schlafzimmer betrat, schob Livia gerade Angelos Garderobe im Schrank zur Seite.
»Das darf nicht wahr sein. Komm hierher.«
»Was ist?«
»Sieh nur den Kleiderkasten!«
»Was ist mit ihm?«
»Der gleiche Schrank wie in meiner Wohnung in Venedig. Wenn es nicht sogar derselbe ist!«
»Ja, und É?«
»Hier stand im Juni noch ein anderer Schrank.«
»Ich verstehe nicht. Wir suchen doch nach meinem Bild.«
»Dieser Schrank ist kein gewöhnliches Möbel. Angelo hatte seine Ýeiserne ReserveÜ darin verstaut, die Handzeichnungen und Druckgrafiken mit den Echtheitszertifikaten É«
»Du meinst É das Bild sei da drin? Überleg mal. Er müsste die Leinwand eng zusammengerollt haben É Schrecklich!«
»Schauen wir nach!« erwiderte Livia und schob mit einem Griff die Bügel zusammen. »Nimm das raus hier und wirf alles auf das Bett.«
Als der Blick auf den Schrankboden frei war, schnalzte sie mit der Zunge. »Der alte Trick!«
»Was meinst du?« fragte Duncan ungeduldig.
Sie deutete auf den Schrankboden. »Darunter! Ich sage dir, da drunter ist was. Ich spüre es.«
»Viel zu klein, Livia. Da passt doch unser Velázquez nicht mal als Rolle hinein.«
Livia kniete sich nieder. »Hier das kleine kreisrunde Loch.«

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ie steckte ihren Zeigefinger hinein und hob geschickt ein schmales, dünnes, doch fugendichtes Holzbrett heraus, dessen Fläche nur knapp ein Fünftel des gesamten Schrankbodens ausmachte. Im schwachen Licht war im ersten Moment nicht genau zu erkennen, was unter dem Bodenbrett säuberlich aufgeschichtet lagerte.
Livia zeigte auf das Nachtkästchen. »Hol mal die Lampe.«
Duncan knipste sie an. Die Länge der Zuleitung reichte gerade aus. Im Licht der Lampe verschlug es ihnen den Atem. Bündel von Banknoten weiteten ihre Augen.
»Das muss ein Vermögen sein!«, rief Livia.
Duncan griff sich ein Bündel. »Dollars! Alles amerikanische Dollars.«
»Wie viel É wie viele, glaubst du, sind das?« fragte sie.
Daraufhin nahm er das ganze Bodenbrett heraus. »Das ist mehr als ein Vermögen. Das ist der pure Reichtum!«
»Siehst du dort!« Livia zeigte auf ein grob aufgerissenes Kuvert. Duncan nahm es und zog den darin steckenden Briefbogen heraus und reichte ihn Livia. Sie überflog die eilig geschriebenen Zeilen: É für den Velázquez É Und darunter stand É von É und danach die Initialen: M.P.d.C. Danach war die Summe: É 1,2 Millionen Dollar in Einhundert-Dollar-Scheinen É, und in Klammern (nicht registriert) notiert.
Livia war wie vor den Kopf geschlagen. Die Initialen konnten nur auf einen Herrn zutreffen. Und dieser Herr hieß Mauricio Peroni de Castro, aus der Galerie Alberto Pieramanti.
»Ein Komplott! Ich habe es geahnt. Sie stecken alle unter einer Decke.« Livia stand auf und sah Duncan entschlossen an: »Los komm, das Geld gehört uns.«
»Du meinst wirklich?«
»Klar. Es gehört uns. Oder nimm es als Pfand für das uns gestohlene Bild.« Livia wedelte mit dem Zettel: »Das Papier beweist es: Angelo hat deine Kopie als Original an den Silberschopf verkauft. Und vor uns liegt die Bezahlung für diesen Diebstahl.«
»Wer ist Silberschopf?«
»Das erkläre ich dir später, mein Liebling. Wir müssen sehen, dass wir hier verschwinden.«
»Wohin mit dem Geld?«
»Nehmen wir erst mal mit. Aber ich denke, wir kennen inzwischen einen guten Ort in der Schweiz, wo es sicher aufgehoben sein wird.«
Ein Lächeln umspielte Duncans Mundwinkel. Auch er hatte sich erhoben und sah hinab auf den Reichtum. »Ich glaube, wir schaffen es nicht auf einmal. Wir werden mehrmals zum Wagen gehen müssen.«
»Da fällt mir etwas ein, Liebling. Wie hast du gesagt: Bitte einmal noch É und dann immer wieder?«
Er küsste sie zärtlich und erwiderte: »Engel, die Betonung liegt auf Ýimmer wiederÜ!«

Tonda, Toskana,
13. September 1965

L
ivia trat barfuß an die Mauerbrüstung der uralten Terrasse. Sie gehörte zu ihrer idyllisch gelegenen Villa und begrenzte das Areal nach Süden. Das Anwesen lag auf dem Rücken eines Hügelsaumes mit weitem Ausblick in die Umgebung von Weingärten und Olivenhainen. In der Morgendämmerung zeigten sich die ersten Konturen. Weithin schweifte der Blick über dunstüberwobenes braunes Erdreich. Die knorrigen Stämme der Olivenbäume, gleich unterhalb der Terrasse, waren mit silberflirrendem Blätterwerk umkleidet und versprachen in der heißen Jahreszeit wohltuenden Schatten. Man hatte den Eindruck, als risse der Saum der Olivenhaine nicht ab, der sich über Täler und Hügel hinzog. Die ausgedehnten Haine prägten wohl immer schon das Bild dieser Landschaft. Der Antike hatte dieser Baum als Symbol des Friedens gegolten.
Frieden war das Gefühl, das auch Livia beim Blick in diesen Garten empfand. Ihr war, als hätte man ihr nach einer langen Zeit der Prüfungen und Ängste einen Ölzweig zum Sieg vorangetragen. Einen Ölzweig, wie ihn auch auch die Taube im Schnabel gehalten hatte, als sie von der verheerenden Sintflut zu Noahs Arche zurückkehrte, die auf einem Berg gelandet war. Wie passend, überlegte sie. Duncan und sie hatten endlich ihre eigene rettende Arche entdeckt, und nun gurrten über ihnen die Tauben im ersten Licht des neuen Morgens É

I
hr Blick wanderte im Südwesten über gradlinig gefurchte Äcker, deren feuchte Schollen glänzten und sich hinzogen bis zur Erhebung des etruskischen Volterra. Wenn sie sich umdrehte, so wechselten nordwärts an den hügeligen Hängen Weinterrassen und Ackerland mit Baumgruppen und Gesträuch ab. Rundum auf den Anhöhen standen immer wieder Villen oder Gutshäuser mit ihren Wirtschaftsgebäuden, flankiert von den hochragenden Spindeln der tiefgrünen Zypressen. Sie atmete tief durch und meinte den kräftigen Harzduft dieser Bäume zu schnuppern É
Plötzlich spürte sie Hände, die sich auf ihren nackten Bauch legten, und die Wärme eines straffen Körpers, der sich sanft an ihren Rücken schmiegte. Sie schloss die Augen. Duncan streifte sacht ihr Haar hoch und begann ihren Nacken mit seinen Lippen zu liebkosen. Es war wie im Paradies É

I
n solchen Momenten dachte sie zurück an die vergangenen Monate, die sie einem Wechselbad von Ängsten und Aufregungen ausgesetzt hatten. Sie spürte noch die Nähe der Bedrohungen, die plötzlich wie ein böser Spuk zu Ende gegangen waren. Die Gefahr war gebannt. Und ein Mann, dem sie in vielen Situationen zu vertrauen gelernt hatte, war an ihrer Seite.
Diesmal hatten Duncan und sie das Glück auf ihrer Seite gehabt. Der Dollarsegen war in ein Niemandsland gefallen, auf das sie als einzige Anrechte besaßen. Der Erlös für die Kopie gehörte Duncan als Maler und war zugleich der Ersatz für ihre von Angelo verspielte Mitgift. Doch aus einer so unerwarteten Kriegsbeute ein unanfechtbares Eigentum zu machen hatte einiger Überlegung bedurft. Solange der Dollarschatz in der Wohnung lagerte, hatten sie sich umsichtig verhalten müssen, da die Möglichkeit bestand, dass die Kriminalpolizei sie in ihre Ermittlungen einbezog.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 10.05.2005