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Hoffentlich, ging es ihr durch den Kopf, wird das empfindliche Gemälde nicht ständig durch grobe Packerhände an einen anderen Stellplatz verbracht oder gar unter Stapeln von Kisten aufbewahrt.
Auf dem Briefkopf der Schreiben prangte in blauer Schrift und breiten Großbuchstaben der Name TRANSGLOBAL AG und darunter die Bezeichnung Internationale Transporte. Wer weiß, dachte sie, was sich hinter einem derartigen Firmennamen verbirgt? Drei verschiedene Schweizer Adressen waren angegeben, eine davon bezog sich wohl direkt auf den Flughafen.
Sie überflog abermals die Schreiben, die von unterschiedlichen Sachbearbeitern unterzeichnet waren. Der letzte Mahnbrief war vom Operation Office der Firma zugestellt worden. Eine schwungvolle, selbstbewusste Unterschrift schloss die Grußformel: Mit freundlichen Grüßen, ab. Der Unterzeichner trug den einprägsamen Namen Eddie Cappella. Auch dessen Durchwahl war auf dem Schreiben angegeben.
Livia griff zum Hörer. Ihre Finger zitterten etwas, sodass ihr die Wählscheibe zweimal entglitt. Nach endlosen Wahlgeräuschen und Pieptönen klappte es endlich beim fünften Versuch. Knapp und bestimmt vernahm sie eine männliche Stimme: »Transglobal AG, Cappella«, und nachdem Livia sich mit ihrem ehelichen Namen vorgestellt hatte, vernahm sie in tadellosem Italienisch: »Signora Romano, was kann ich für Sie tun?«
Routiniert setzte Livia, wie schon so oft in den vergangenen Monaten, ihre angenehme Stimme ein, um den unsichtbaren Menschen am anderen Ende für sich einzunehmen. »Ich bin die Besitzerin eines Bildes, das bei Ihnen aufbewahrt wird. Dazu hätte ich gern einige Auskünfte von Ihnen.«
»Signora Romano, sagen Sie mir bitte ihre Kundennummer.«
»LT 803624!«, sang sie die Zahlen in die Muschel.
»Bitte gedulden Sie sich einen Moment«, kam es zurück.
Nach einer längeren Unterbrechung, in der Livia mit ihren Fingern nervös auf die Tischplatte zu trommeln begann, vernahm sie plötzlich eine veränderte Stimme am anderen Ende. »Signora, es tut mir leid, aber ihre Akte ist gerade an meinem Platz nicht verfügbar.«
»Nicht verfügbar? Darf ich wissen, woran É«
»Ich habe hier einen Vermerk vorliegen: Lagergeld unbezahlt seit August. Unsere Mahnungen blieben ohne Resonanz. Sie gingen an eine Mailänder Adresse, an Herrn Angelo Romano.«
»Ja ich weiß. Das ist die Adresse meines Mannes.«
»Ach so! Ihres Mannes É«, sagte Capella erstaunt. »Verzeihen Sie, Signora Romano, aber ich muss Sie das fragen: Sind Sie von ihrem Mann bevollmächtigt?«
»Ja, ich bin nicht nur bevollmächtigt, sondern ich habe auch die Übereignungsurkunde des Objekts vor mir liegen. Wie schon erwähnt: Das Bild gehört mir. Können Sie mir bitte sagen, was ich zu tun habe?«
»Wir benötigen diese Vollmacht, bevor ich weitere Auskünfte erteilen kann.«
»Reicht Ihnen eine Kopie?«
»Nein, es muss eine beglaubigte Abschrift sein. Sie verstehen É«
»Ja, ich verstehe. Wie kann ich inzwischen Ihre Forderungen begleichen? Ich möchte die Anweisung umgehend veranlassen.«
»Auch das, Signora Romano, ist erst möglich, wenn wir die Abschriften geprüft haben.«
Livia nahm all ihren Mut zusammen: »Signore Capella, darf ich Sie um eine offene Antwort bitten: Ist der Zahlungsverzug gravierend, oder kann ich mit Ihrer Kulanz rechnen?«
»Signora«, sagte der Mann am anderen Ende der Leitung, und der Schweizer Akzent in seinem Italienisch wurde stärker, »dazu kann ich Ihnen nur sagen, dass nach unserem Reglement der Lagerhalter nach Artikel 485/III OR grundsätzlich das gesetzliche Retentionsrecht an der Lagerware besitzt. Außerdem räumt der Einlagerer dem Lagerhalter das Faustpfandrecht nicht nur an der Lagerware ein, sondern für sämtliche Forderungen, die wir gegenüber dem Einlagerer haben!«
»É das hört sich nicht gut an. Wissen Sie, mein Mann É«
»Verzeihen sie Signora Romano, ich wollte noch ausführen: Kommt der Einlagerer seiner Zahlungspflicht nicht nach, so haben wir das Recht, nach Ablauf von dreißig Tagen seit der gesetzlichen Mahnung das eingelagerte Objekt auf eigene Rechnung zum bestmöglichen Preis zu verkaufen. Natürlich wird ein allfälliger Überschuss des Verkaufspreises über die Retentions- bzw. Pfandforderung dem Einlagerer vergütet.«
Livia verschlug es die Sprache: »Was É was bedeutet das, bitte?«
»Da die Frist längst abgelaufen ist, könnten die Optionen greifen!«
»Abgelaufen? Optionen? Haben Sie etwa É«
»Weitere Auskünfte kann ich Ihnen am Telefon, so leid es mir tut, nicht geben. Sie verstehen?«
»Ich muss es wohl«, sagte sie gefasst. »Signore Capella, nun muss ich Sie bitten, mich zu verstehen. Auch wenn Sie Ihrem Reglement folgen müssen, so gehe ich davon aus, dass mit meinem Bild nichts dergleichen geschehen ist.«
»Das hoffe ich auch, Signora. Wir räumen unseren Kunden im Normalfall die doppelten Fristen ein. Doch Sie müssen uns erst Ihre Unterlagen übermitteln, bevor ich Ihnen Genaueres sagen kann. Tun Sie es bitte umgehend.«
»Umgehend É Ja, Signore Capella, sie können sich darauf verlassen.«
»Dann sage ich Grüezi, Signora Romano.«
»Grüezi É«, wiederholte Livia wie in Trance und legte den Hörer auf.

Zürich, Januar 1965

V
ierzig Franken im Monat! Ich kann es immer noch nicht fassen. Wegen so eines lächerlichen Betrags riskiert mein Mann Angelo die Pfändung meines Velázquez!«, sagte Livia kopfschüttelnd zu Duncan, als sie mit dem Lift zwei Stockwerke nach oben fuhren. Sie hatten die Ankunftsebene der Reisezugs Mailand-Zürich verlassen und betraten die Wartehalle des Flughafens Kloten. Gähnende Leere empfing sie. Offensichtlich waren gerade Abflüge aufgerufen worden.
»Klein aber fein«, reimte Livia.
»Wärest du lieber geflogen?«
»Nein. Ich liebe die tief verschneiten Berge. Über den Wolken im Flugzeug hätten wir nichts von der Winterwelt gesehen. Außerdem plagt mich doch die Flugangst. Du hättest mir ständig die Hände halten müssen.«
»Nichts hätte ich lieber getan. Lass es mich nachholen.« Duncan versuchte, Livias Hände zu fassen.
»Nein, du hattest im Zug genug Gelegenheit dazu«, lachte sie.
Doch Duncan erwischte eine Hand und rieb sie liebevoll zwischen den seinen. Trotz der angenehmen Berührung entwich das Lächeln aus Livias Gesicht gleich wieder. Duncan spürte seit Tagen eine zunehmende Unruhe bei ihr. Da waren wieder die Fragen, die sie beide verfolgten: Würde Transglobal das Pfandrecht ausüben, wie es im Reglement festgeschrieben stand? Und wenn ja, wie konnte man so etwas rückgängig machen? Würde sich die Firma trotz der Überschreitung der Zahlungsfristen als anständig erweisen? Und welche Rechtsmittel konnten sie im Ernstfall einlegen?
Und hinter diesen drängenden Fragen stand immer noch jenes andere, ebenso ungelöste Problem: War das Bild tatsächlich ein Original von Velázquez? So sicher sie sich auch zwischenzeitlich gewesen war, beschlichen sie jetzt doch wieder Zweifel. Angelo hatte sie jahrelang belogen; wie konnte sie davon ausgehen, dass er jetzt nicht mit gezinkten Karten spielte? War vielleicht doch etwas faul an dieser ganzen Transaktion?
»Ach was, mein Engel, egal wie es ausgeht, wir bleiben zusammen. Mach dir daher keine allzu großen Sorgen!«, versuchte Duncan sie aufzuheitern. »In der nächsten Stunde werden wir wissen, woran wir sind.«
Sie suchten den Ausgang aus der kalten Halle. Das Schild Taxen wies ihnen dabei die Richtung. Livia erinnerte sich an verschiedene Reiseprospekte, in denen Zürich in den höchsten Tönen gepriesen wurde. Weltstadt mit Tradition, hieß es dort. Und in einem Journal, das im Zug zur Einsicht auslag, hatte sie gelesen: Stadt der urbanen Stimmung mit lebenslustigen und kreativen Menschen!
Das Quietschen von Schwingtüren an der gegenüber liegenden Hallenseite weckte ihre Aufmerksamkeit. Eine Kolonne von Männern in dunklen Nadelstreifen-Anzügen, bewaffnet mit schwarzen und bordeauxroten Aktenkoffern strömte in die Halle. Sie wirkten tüchtig, ernst, bedeutend und erfolgreich - alle Welt sollte das an ihrem Gehabe wohl erkennen. Selbstzweifel waren ihren Gesichtern nicht abzulesen. Siebenundzwanzig Schlipsträger, offensichtlich eine Kaste von Gleichgesinnten, zählte Livia insgeheim - und eine einzige Frau.
»Nein, doch noch einige Frauen É«, sagte sie halblaut zu sich selbst, als sich im Rillenglas der Türen mehrere bodenlange weiße Mäntel abzeichneten. Doch einen Moment später wandelten sich diese in drei Männergestalten, die Burnusse trugen.
Im selben Augenblick war ihr bewusst, dass zu dieser kleinen Großstadt mitten in Europa auch das große internationale Geld gehörte. Der Name Zürich steht schließlich für den Hauptsitz der meisten Schweizer Großbanken mit ihrem weltumspannenden Ruf. Stadt des Geldes, der Treuhänder und Nummernkonten, so wird sie bisweilen von neidischen Geistern apostrophiert! Von Kriegen verschont, von Bürgersinn und Polizei gleichermaßen beschützt, wurde diese Stadt offensichtlich auch zum Auffangbecken von Milliarden von Fluchtgeldern und zum Lagerplatz echter und zweifelhafter Schätze aller Art.
So besehen, ging es Livia durch den Kopf, hatte Angelo für ihren Velázquez den sichersten Aufbewahrungsort der Welt ausgewählt.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 29.04.2005