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Die Auffassung und die Malweise waren so ähnlich, wie sie nur sein konnten. Mehr ließ sich an den Abbildungen nicht erkennen, die die Malerei nicht farbig und nicht maßstabgerecht erfaßten. War es wirklich das Original oder doch nur eine gute Kopie, wie es etliche nach Velázquez gab? Es wurde Zeit, endlich das geheimnisvolle Fundstück an seinem Aufbewahrungsort in Augenschein zu nehmen.
Mit kompletten historischen Informationen ausgestattet, hatten Duncan und Livia deshalb ihren Besuchstermin bei den Hütern dieses Werks, der Firma Transglobal AG in Zürich, für Anfang Januar des neuen Jahres ins Auge gefasst.
Aber noch eine andere Erfahrung hatten beide aus ihren selbstständigen Expeditionen mitgebracht: Sie vermissten einander so sehr, wie sie nie vorher jemanden vermisst hatten. Duncans harte Arbeit und sein Ehrgeiz bei der Aufklärung der historischen Wahrheit hatten seine stetig wachsende Sehnsucht nicht zu verdrängen vermocht.
»An was denkst du, Liebster?«, flüsterte Livia, als sie wieder glücklich neben Duncan ruhte.
»An jede Stunde unseres Sommers und an den Herbst - alles bleibt unvergesslich, mein Engel. Ich habe das Gefühl, dass alles in mir jubelt, wenn ich mit dir zusammen bin.«
»Ich auch. Vor allem dann, wenn du so etwas Liebes sagst. Glaube mir, mein Liebster, ich brauche dich genauso. Die Wochen der Trennung von dir waren auch für mich fast unerträglich. Immer wenn ich die Augen schloss, sah ich dein Lächeln vor mir, spürte deine Hände und Arme, die mich zugleich zärtlich und stürmisch umschlangen. Ich hatte deine Stimme im Ohr, als ob du hinter mir stehen würdest É Mich quälte nur ein einziger Gedanke: Warum ist er jetzt nicht hier? Mein Verlangen nach dir ist so groß; - ich will nie mehr ohne dich sein.«
In einem beseligten Gleichklang hielten sie einander fest.
»Mir ging es nicht anders«, meinte Duncan. »Am schlimmsten, mein Engel, waren die beiden letzten Wochen ohne dich in Madrid. Die Recherche ging zwar gut voran, doch bin ich ohne dich fast verrückt geworden.«
Sie legte den Kopf zurück, während er sie um die Taille festhielt. »Weiß du es nicht? Sehnsucht kennt keine Zufriedenheit. Was hast du mir so treffend geschrieben? Die Liebe überbrückt Madrid-Rom in Lichtgeschwindigkeit É?«
»Ja, das habe ich É«
»É sie soll mich berühren und mir immerfort das Gefühl geben, dass sie nur für mich da ist und für mich brennt?«
»Ja, so habe ich es geschrieben, und so meine ich das auch.«
Livia blickte ihn glücklich an.
»Unsere Liebe hat außerdem eine Chance, wie sie VelázquezÕ Liebe nicht hatte. Wir können aus Rom und Madrid wieder zusammenkommen, ohne dass ein König es uns verbieten kann.«
»War das so?«
»Ja, leider. Velázquez wollte unbedingt wieder nach Italien. Ich nehme an, schon viel früher. Aber nur das Gesuch von 1657 ist überliefert.«
»Und warum durfte er nicht?«
»Er war ein Diener seines Königs, sein Oberhofmarschall und Reiseorganisator. Er wäre sicher gern einmal ausgebrochen und zu Flaminia zurückgekehrt.«
»Und du?«, lächelte sie Duncan an.
»Ich bin zurückgekehrt und will nie wieder weg von dir.«
Sanft entwand sie sich seinen Armen. Sie erhob sich, nahm ihr Glas und trank den Rest der köstlichen Mischung aus Sekt und Pfirsichsaft, die Duncan zum Frühstück gemixt hatte. Etwas verwirrt schickte sie sich an, den Tisch abzuräumen. Sie hatte sich in der Vergangenheit nie den Kopf darüber zerbrochen, was sie tun sollte und was nicht. Auch jetzt war sie versucht, ihren Empfindungen nachzugeben. Ihre Gefühle drängten vehement zu Duncan, dennoch waren der Konflikt und ihre Trennung von Angelo noch zu frisch und drangen hin und wieder an die Oberfläche. Das Vorbei und Vergessen würde sich wohl nicht so bald einstellen.
Im Widerstreit mit solchen Erfahrungen spürte sie dennoch, dass sie sich Duncan gegenüber öffnete wie eine Blume im Licht, ohne dass sie sich dagegen wehren konnte.
Duncan stand ebenfalls auf, trat an sie heran, drehte Livia langsam zu sich herum und nahm ihre Hände in die seinen. »Schau mir bitte in die Augen. Was ist mit dir? Zweifelst du?«
»Ich kann es dir nicht sagen. Es ist alles so unsagbar schön, und doch geht mir wiederum alles zu schnell. Es ist ein Wechselbad É«
»Nie mehr ohne dich, sagtest du vorhin zu mir.«
»Ja, ja, ja - ich will es, ich will es. Und doch É Gib mir ein wenig Zeit.«
»Glaub mir, du wirst eines Tages vergessen, was war - und ich werde dir dabei helfen.«
»Ja, ja, Liebling, ich wünsche es mir«, erwiderte Livia und fuhr fort: »Du sollst wissen: Tief im Innern meines Herzens träume ich davon, mit dir durchs Leben zu tanzen. Hand in Hand, Arm in Arm, eng umschlungen. Bei Tag im Sonnenschein und im Sternenlicht der Nacht. Immer weiter, ohne wissen zu müssen, was für ein Ziel auf uns wartet.«
»Tanze einfach mit mir É« Duncan löste sich von ihr, um erneut die beiden Gläser zu füllen. Bedächtig stießen sie an. Er meinte, die gemeinsame Zukunft halle für ihn im Klingen der Gläser wider. »Du hast alle Zeit, mein Engel.«
»Ja, Zeit, diese unsichtbare, unfassbare, kosmische Macht. Lass sie uns auf unsere Art und Weise genießen.«
Duncan setzte sich und zog Livia auf seinen Schoß. »Ich mache mir natürlich auch Gedanken, wie es mit uns weitergehen soll.«
»Verrate sie mir.«
»Ich glaube, es hängt viel von unserer Venus ab.«
»Hegst du irgendeinen Zweifel an der Echtheit?«
»Endgültig werden wir das erst feststellen können, wenn wir das Gemälde aus dem Zolllager herausgeholt und untersucht haben. Mein Verstand sagt mir, dass es vermutlich mehr Fälschungen als überlieferte Originale gibt. Mein Gefühl sagt mir dagegen, dass wir eine Weltsensation ausgegraben haben. Zusammen genommen ist es also kein Wunder, wenn ich ins Grübeln gerate.«
»Also Liebster, nehmen wir den schlechtesten aller Fälle an, unsere Venus in Zürich entpuppt sich als ein exzellentes Imitat. Was wäre dann?«
»Ich müsste im Neuen Jahr irgendwann zurück nach England oder Schottland. Ich könnte meine Arbeiten vorerst nur in London oder Edinburgh fortsetzen.«
»Und was hieße das für mich?«
»Von irgendwas müssten wir ja leben. Ich würde dich einfach bitten mitzukommen.«
»Und wenn ich Nein sage É?«
Duncan fühlte ein Grummeln in seiner Magengrube. Er presste Livia an sich. »Dann bleibe ich hier und suche mir einen Job. Niemals bleibe ich mehr ohne dich!«
Livia barg ihr Gesicht in seiner Halsgrube. Nach einer Weile hob sie den Kopf: »Ich mache dir einen anderen Vorschlag. Wir bleiben in Italien - so oder so. Mit deinen Qualitäten findest du hier in Mailand, in Florenz, Venedig oder sogar in Rom auch eine Arbeit, die dir Spaß machen wird. Doch du wirst sehen, unsere Venus ist von Velázquez gemalt. Sobald alles feststeht, werden wir versuchen, das Bild so bald wie möglich zu verkaufen. Ich denke, es müsste danach reichen für ein gemeinsames Leben an einem wunderschönen Ort, von dem ich schon lange, lange träume.«
»Verrätst du ihn mir?«
»Nein, nein É Das werde ich erst, wenn unser Traum Wirklichkeit geworden ist. Solange werden wir uns danach sehnen müssen. Doch du weißt ja: Sehnsucht kennt keine Zufriedenheit. Sie ist aber der Motor für das, was wir sein wollen: glücklich É miteinander.«

Mailand, Dezember 1964

E
s war ein kalter, ungemütlicher Tag. Regenwolken zogen über Mailand. In den Straßen herrschte dennoch geschäftiges Treiben: der übliche Schlussspurt vor den Festtagen.
In das Appartement in der Via Botticelli hatte Livia mit liebevoller, doch dezenter Dekoration eine anheimelnde, vorweihnachtliche Stimmung hineingezaubert. Doch der Schein trog. Jedenfalls für den Moment. Fein säuberlich lagen ein halbes Dutzend Schreiben ausgebreitet auf ihrem Schreibtisch. Alles Mahnbriefe aufgrund unbezahlter Rechnungen. Angelo hatte sie ungeöffnet zu ihr nach Venedig geschickt, und mit dem Nachsendeauftrag kamen sie prompt wieder zurück nach Mailand, direkt in Livias Hände.
Drei davon steigerten spontan ihre Pulsfrequenz. Angelo war seit acht Monaten die Kosten für die Aufbewahrung des Gemäldes im Zollfreilager Zürich-Flughafen bei der Firma Transglobal AG schuldig geblieben. Die Pfändung durch die Spedition war im letzten Brief angedroht. Besonders der letzte Satz im Reglement für den Betrieb des Lagergeschäftes jagte ihr Schauer über den Rücken: É nach Ablauf von 30 Tagen seit der gesetzlichen Mahnung kann der Lagerhalter freihändig bestens verkaufen É Sie musste dem zuvorkommen.
Nervös schob sie den Lagerschein vor sich auf der Tischplatte hin und her. Die Lagernummer, der Lagerort, das Datum der Einlagerung, die Lagerversicherung, die Lagerobjektnummer, die Verpackung und die Rubrik: Werk, unter dem Italienische Venus eingetragen war, konnte sie inzwischen im Schlaf hersagen.
Es muss schon eine merkwürdige Örtlichkeit sein, die Angelo da zur Aufbewahrung herausgesucht hatte, dachte sie sich. Was ist eigentlich ein Zollfreilager? Was hat man sich darunter vorzustellen? Irgendeine zugige Halle? Einen einsamen Stapelplatz? Oder einen feuchten Bunker?
Tresorraum KT3 stand neben der Rubrik Lagerort. Wer weiß, ob das Bild dort ausreichend geschützt war. Wurde dort nicht täglich an- und ausgeliefert? (wird fortgesetzt)

Artikel vom 28.04.2005