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Nach ungezählten Versuchen finde ich schließlich zu einigen klaren Sätzen:
Meine über alles geliebte Flaminia,
ich wünschte dir und mir so sehr, dass unser Bund für ewig andauern möge. Ich weiß, dass im Moment meiner endgültigen Abreise nach Madrid diese Worte wie Hohn klingen müssen.
Du hattest Recht, ich habe gezögert und konnte mich nicht entscheiden. Glaube mir: Ich habe unendlich darunter gelitten und leide weiter. Meine einsamen Nächte vergehen in Qual und Sehnsucht nach dir, da unser lustvolles Paradies einer leeren Tiefe gewichen ist.
Mein Alles, meine Seele, du mein halbes Ich. Wer hätte von uns beiden vor der Liebe an die Hölle gedacht? Wenn es am schlimmsten ist, will ich in einen todessanften Schlummer gleiten.
Meine überirdisch Schöne und Liebevolle, mein Engel und meine schönste irdische Venus Flaminia. Ich möchte deine Stimme wieder hören, dein glockenhelles Lachen, deinen Atem wieder spüren, dich vom Morgen bis zum Abend betrachten und lieben und dich zum Lachen oder Weinen bringen. Ich möchte dich zudecken und dir beim Einschlafen zuschauen, so wie ich dich mit meinem Kuss am Morgen wecken möchte.
Du siehst, meine Gefühle haben sich nicht verändert É nur aus dem Sturm ist inzwischen ein Orkan geworden.
In diesem Augenblick, in dem du diese Zeilen liest, bin ich nicht auf dem Meer, sondern segle in deiner Seele und ankere dort, wo du es willst - dort, wo wir frei sind wie die Sonne, das Licht, die Luft der vier Winde und auch die tiefe See É
Ich werde nach Rom zurückkehren und den einzigen Ankerplatz auf diesem Erdkreis finden, an dem mein Herz zur Ruhe kommt.
Meine Liebe zu dir ist ewig.
Dein Diego
Am frühen Nachmittag gibt Kapitän Romero den Befehl zum Auslaufen. Der Gedanke, bald schon wieder spanischen Boden betreten zu können, was meine Mitreisenden offenbar sehnsuchtsvoll herbeisehnen, treibt mir die Tränen ins Gesicht.
Sobald die Segel gesetzt sind, liegen wieder Wochen grenzenlosen Meeres vor mir. Alles ist endgültig vorbei, wenn die Leinen eingeholt werden.
Mir ist, als müsste ich Flaminia noch etwas zurufen. Doch mir versagt die Stimme É

XII. Die Venus des
Diego Velázquez

Mailand - Zürich - Tonda
1964-1965

Mailand, Dezember 1964

D
ie rotschwarz geflammte Glasmurmel rollte quer über die weiße Tischdecke und traf Livias Kaffeetasse. Livia klatschte und rief: »Oh, so ein Glück!«
»Können!«, erwiderte Duncan selbstbewusst.
»Alles Zufall!«, schwächte Livia ab.
»Ach, dann gib sie mir bitte zurück, ich mach das noch einmal.«
»Jetzt aber zwischen diesen beiden Eierbechern hindurch!«, verlangte sie.
»Gut. Ich setze ein englisches Pfund, dass ich mitten hindurch treffe!«
»Angenommen!«
Duncan beugte sich über den Tisch, legte sich mit Konzentration die Glasmurmel zurecht, zielte und stupste sie sacht mit dem Zeigefinger in Richtung der Lücke. Doch die Murmel verlangsamte ihren Schwung auf den letzten Zentimetern und blieb noch vor der gedachten Ziellinie liegen.
»Ecco! Ich habe gewonnen«, rief Livia. Sie trug eine knielange schwarze Hose und eine sonnengelbe Bluse, worin ihre schlanke Figur so richtig zur Geltung kam. Fordernd hielt sie ihre offene Hand vor Duncans Brust.
Dieser hob die Schulter, griff nach den Innenseiten seiner Hosentaschen und zog sie heraus: »Ich habe kein Pfund bei mir. Kann ich Õs dir nicht schuldig bleiben?«
»Nein! Spielschulden sind Ehrenschulden. Auch ein sparsamer Schotte, so sehr er auch von seiner Gläubigerin geliebt wird, muss solche Schulden sofort bezahlen!«, sagte sie mit gespielt strengem Ton.
»Lässt sich der Betrag nicht in etwas Edleres wechseln?«
»Edleres?«, überlegte Livia, um gleich darauf ihre Wünsche zu präsentieren. »Ja, Geschmeide aus Silber oder Gold schätze ich sehr!«
Duncan fasste Livia daraufhin bei ihrer Taille und zog sie sanft an sich heran. »Ich denke mehr an Küsse und zärtliche Liebkosungen«, flüsterte er an ihrem Ohr.
Livia erwiderte nichts, schloss ihre Augen und schmiegte sich eng an ihn. Nach einer Weile meinte sie: »Mein Herz hast du dafür voll getroffen. Da hast du wahres Können bewiesen. Das Spiel liegt dir É«
»Ja, es liegt mir sehr. Lass es uns bitte liebevoll fortsetzen É«
Duncans Blick glitt über Livias dunkles Haar, hinab über die golden schimmernde Haut ihrer Schultern und wieder hinauf, bis sich ihre Augen wieder trafen. Lange wiegten sie sich miteinander in zärtlicher Umarmung. Er wollte ihre Gegenwart fühlen, so intensiv wie möglich - so wie es die vergangenen Sommermonate hindurch gewesen war. Er genoss Livias tiefe Zuneigung, die er viele Wochen so sehr vermisst hatte, kaum dass sie getrennt waren. Duncan dachte mit Wehmut an die Zeit in Madrid, als er in Bibliotheken und Archiven über den spanischen Hof und das Leben von Diego Velázquez, seine Reisen und seine Bilder recherchiert hatte, während Livia in Venedig, Florenz und Rom auf alten Stadtplänen, in Archivkarteien und in Bestandsverzeichnissen von Sammlungen den Spuren des Malers nachgegangen war. Es war eine perfekte Arbeitsteilung. Das Reisen zu zweit wäre teurer gewesen, und die Recherchen wären wesentlich langsamer vorangekommen É
Doch die schmerzhafte Trennung hatte sich gelohnt. Auf ihren separaten Wegen hatten Duncan und Livia in Rom und Madrid viel über die Hintergründe der zweiten Reise des Velázquez nach Italien und die Entstehung seines berühmten Venus-Rückenakts in Erfahrung gebracht.
Fantastische Spekulationen hatten seit jeher in der Literatur um diese atemberaubende Nackte gekreist. War sie wirklich die Augenweide für den frommen, melancholischen, doch willensschwachen und vor allem als zügellos geltenden König Philipp IV., wie manche glauben wollten? War sie wirklich eine der Hofschauspielerinnen in Madrid, die als Modell herhalten musste? Und wenn sie die Geliebte des Königs war, was wurde aus ihr? Was war ihr Schicksal? Einer Frau, die sich mit dem König vergnügt hatte, drohte danach in der Regel die Höllenfahrt. Auf die Sünde folgte Gottes Strafe. Wilde Spekulationen darüber traten Duncan aus einer bunten Literatur entgegen. Ließ der König die jugendliche Schöne tatsächlich in ein Kloster verbringen, nachdem er sie geliebt hatte, da sie von keinem anderen Mann mehr angefasst werden durfte? Galt für diese außerordentliche Frau das gleiche Schicksal wie für die königlichen Pferde? Denn die, die Philipp selbst geritten hatte, durften von niemandem mehr bestiegen werden. Wenn dem so war, dann war es kaum denkbar, dass Velázquez sie vorher oder gar erst danach im Auftrag des König gemalt hatte.
In einem Königreich, in dem die Darstellung unverhüllter Frauen gesellschaftlich verpönt und offiziell verboten war, dürfte auch der Souverän selbst es kaum gewagt haben, seinem Hofmaler einen solch delikaten Auftrag zu erteilen. Angesichts der Heiligen Inquisition und der Intrigen bei Hofe erschien eine so direkte Einbeziehung von Velázquez durch den König kaum glaubhaft. Die Tatsache, dass Philipp seine wilden Jagden oft mit sexuellen Ausschweifungen garnierte, sprach eher dafür, dass er ein solches Bild als Trost und Ablenkung nicht benötigte.
Aber es war ein Auftrag. So viel stand fest. Doch wer hatte ihn erteilt? Wer durfte sich so etwas erlauben?
Die Spur führte direkt zu demjenigen, in dessen Besitzinventar das Gemälde der Venus erstmals vorkam: einem ebenso rabiaten Frauenjäger wie Sammler, der lange der Liebling des Königs und der erfindungsreiche Oberherr und Arrangeur des Buen-Retiro-Theaters gewesen war. Zwanzig Bilder von Velázquez besaß der steinreiche Don Gaspar de Haro y Guzmán, Marqués del Carpio, Marqués de Eliche, Duque de Montoro, Conde-Duque de Olivares und Conde de Morente. Die Titel signalisierten seine während seines Lebens ererbten und neuerworbenen Besitzungen. Don Gaspar hatte reich geheiratet, eine der berühmtesten Schönheiten des spanischen Adels, aber seine zahlreichen hemmungslosen Abenteuer mit Schauspielerinnen waren Hofgespräch. Nach eigener Angabe war er immer wieder von Frauen verhext worden, was manche Berichterstatter als Hinweis auf seine Ansteckung mit Geschlechtskrankheiten deuteten.
Nun gut, Velázquez sollte die wildesten Schicksale des dreißig Jahre Jüngeren nicht mehr erleben, als diesem nach einer Mordanstiftung der Prozess gemacht wurde und er über Jahre im Kerker verschwand, bis er nach einem erfolgreichen Kriegsabenteuer erneut glorreich aufstieg, zum Botschafter am Heiligen Stuhl und zum Vizekönig in Neapel.
Aber als Duncan durch seine Recherchen herausfand, dass Haros Sammlungen von Gemälden, mit denen er seine Residenzen in Spanien und in Italien ausstattete, ungewöhnlich wenige religiöse Darstellungen enthielten und dafür auffallend viele Nuditäten, schloss sich für ihn der Kreis. Es war dann eben kein Zufall, wenn in einem so außergewöhnlichen Ensemble auch der Rückenakt einer Venus auftauchte. Das war bereits im Juni 1651, wenige Tage, bevor der Maler selbst, aus Italien zurückkehrend, in Madrid eintraf.
Wenn Duncans These stimmte, hatte das Bild nach seiner Entstehung erst noch eine gefahrvolle lange Reise antreten müssen, bevor es in Madrid inventarisiert wurde. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 26.04.2005