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Dann eilte er zur Staffelei zurück, nahm einen dünnen, langen Pinsel, berührte mit den Haarspitzen die Farbreste von Braum und Schwarz auf seiner Palette und tupfte nach kurzer Überlegung auf eine Stelle mitten in seinem Bild. Sie lag am Rippenbogen, unterhalb der linken Brust der Venus. Dann tauschte er die Bilder und holte Livia herein.
»Komm, mein Engel. Ich habe es für dich signiert!«
Livia ging langsam auf die Staffelei zu. Systematisch und konzentriert begann sie die beiden Gemälde abzugleichen.
»Ich sehe nichts. Machst du dich etwa lustig über mich?«
»Würde ich nie tun. Sieh bitte genau hin.«
Livia schüttelte den Kopf. »Liebling, ich weiß nicht, was ich sehen soll.«
»Hast du nicht einen süßen kleinen Leberfleck? Links unter deiner Brust?«
»Ja! Und?«
»VelázquezÕ Venus hat den natürlich nicht. Aber É«
»Moment!«, rief sie. »Das ist ja süß! Ganz süß, Liebling! Komm her, mein Diego É« Livia ging auf Duncan zu, um ihn fest in ihre Arme zu schließen. »Wollen wir auf die Vollendung des Werkes anstoßen?«
»Auf die Gefahr, dass das Essen kalt wird?«
»Du holst den Sekt, ich besorg die Gläser.«
Kurz darauf reichte Duncan Livia eines der zierlichen Flötengläser mit perlendem Sekt. »Prost! Auf uns!«
»Auf uns, mein Liebling!« Als sie das Glas absetzte, besah sie sich erneut die beiden Gemälde. »Welches würdest du denn lieber hergeben?«, fragte Livia unvermittelt.
»Ehrlich gesagt: keines der beiden. Doch um unsere Träume wahr werden zu lassen, werden wir uns wohl vom Original trennen müssen.«
»Ist London wirklich der beste Platz?«
»Mit Abstand. Wir bereiten eine große Überraschung in der National Gallery vor. Ruhemann wird vor Begeisterung kaum zu halten sein. Und wenn es um eine so kapitale Entdeckung geht, dann können wir sogar in seinem Atelier eine Präsentation machen, bei der die beiden Venusbilder wieder zusammenkommen. Vielleicht erst im kleinen Kreis, unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Danach, da bin ich mir ganz sicher, wird das Museum es sich sicher nicht entgehen lassen, anlässlich dieser überraschenden Entdeckung eine Pressekonferenz zu zelebrieren. Und dann wird es kein Halten mehr geben.«
»Glaubst du, sie werden uns gleich ein Kaufangebot unterbreiten?«
»Angebote werden so oder so kommen. Wenn die National Gallery unseren Velázquez Seite an Seite mit der ÝRokeby-VenusÜ vorstellt, dann werden die Angebote sich überschlagen.«
»Auf Velázquez! Salute!«, prostete Livia Duncan zu. Nachdem sie genussvoll einen Schluck genommen hatte, meinte sie: »Wenn ich so überlege, müssten sich die Suffragetten alle im Grabe umdrehen. Diese arme irre Mary Richardson, von der du mir erzählt hast. Ihren unerlösten Geist sehe ich durch die Galerieräume schweben.«
Duncan setzte sein Glas ab und nahm Livias Hand. »Vielleicht tut sie es nicht mehr, vielleicht tut ihr das Attentat mit dem Hackmesser unendlich leid, da Flaminia ihr inzwischen in langen, dunklen und einsamen Galerienächten ihre wahre Geschichte erzählt hat É«
»Vielleicht inzwischen auch die, dass du und ich ihr wunderschönes Antlitz der Welt wiederschenken werden É«, ergänzte Livia.
»Ja, vielleicht É«


Mailand, März 1965

E
s war Viertel vor zehn, als der Personenwagen, der etwa dreißig Meter vor der Einmündung zur Vale Romagna stand, anfuhr, um einem anderen Platz zu machen.
Livia zog ihre Sonnenbrille aus der Handtasche und überquerte die Straße. Sie vermied es, in die Richtung der beiden rangierenden Wagen zu blicken. Sie war überzeugt, dieses Manöver schon gestern Nachmittag beobachtet zu haben, ohne dass sie ihm irgendwie besondere Aufmerksamkeit geschenkt hätte. Nur in umgekehrter Reihenfolge: Gestern hatte der rote Fiat dem ankommenden schwarzen Opel Platz gemacht. Sie erkannte den Wagen an seinem Gesicht wieder. Die vordere Stoßstange hing schief, was der Frontpartie des Wagens einen ungewollt pessimistischen Zug verlieh. Dem Wagen entstieg ein Mann.
Auf der anderen Seite der Via Botticelli befanden sich genügend Modegeschäfte, sodass Livia glaubhaft den Anschein erwecken konnte, sich für die Auslagen in den Schaufenstern zu interessieren. Dabei nutzte sie die Spiegelung der Fensterscheiben, um den Mann im grauen Überwurfmantel zu beobachten, der dem Wagen entstieg. Er zündete sich eine Zigarette an und musterte scheinbar gleichgültig auf seinem Gehsteig die entgegenkommenden Passanten.
In Wirklichkeit spürte Livia seine Blicke in ihrem Rücken. Sie konnte sich davon überzeugen, dass er in regelmäßigen Abständen genau zu ihr herübersah. Noch redete sie sich ein, dass dies auch Zufall sein könnte. Doch hatte nicht schon während der letzten Wochen an der gleichen Stelle in unregelmäßigen Abständen derselbe Wagen geparkt? Hatte sie nicht schon öfter darin den Umriss eines rauchenden Mannes wahrgenommen? Oder waren es doch schlichtweg Anwohner, die ihre Straßenparkplätze mitunter bis aufs Messer verteidigten?
Ein dunkelgrüner Alfa Romeo rollte langsam heran. Stoppte neben dem roten Fiat und blockierte damit die schmale Fahrspur zwischen den parkenden Autos. Jemand auf dem Beifahrersitz winkte den Mann in Grau zu sich. Ein schrilles Hupkonzert der nachfolgenden, zum Stehen gebrachten Autos hob an. Livia drehte sich um, hob für einen kurzen Moment ihre Sonnenbrille und blickte hinüber.
Zuerst zweifelte sie noch. Doch plötzlich kam es ihr vor, als erwache sie aus einem schlechten Traum. Sie konnte das Gesicht des Mannes zwar nicht sehen, der sich halb aus dem Wagen streckte, um dem Graugekleideten etwas zuzurufen. Doch die Kopfform, der Haarschnitt, die Schulter: Sie kannte diese Silhouette - auch wenn sie nur zum Teil in ihr Blickfeld geriet. Es war Angelo.
Der Mann in Grau eilte heran. Es war das kurze Heben seines Kopfes in ihre Richtung, die Angelo augenblicklich wieder im Wagen verschwinden ließ. Sie war sich sicher, es war eine instinktive Geste, auf die der Beifahrer sofort reagierte. Der Mann dort drüben musste sie gemeint haben. Der Alfa fuhr sofort an. Das Hupkonzert verebbte.
Für einen kurzen Moment stand sie da wie gelähmt. »Zum Teufel! Was soll das?«, fragte sie sich. Der Mann gegenüber warf den Rest seiner Zigarette auf den Boden und trat die Glut seelenruhig mit den Schuhabsatz aus. Livia ließ die Sonnenbrille wieder auf ihre Nase sinken, drehte sich um und lief ziellos die Via Botticelli hinunter. Ihre Wahrnehmung verengte sich. Sie empfand plötzlich die anderen Passanten wie versprengte Statisten, die durch die Szenerie liefen, als spürten auch sie das Ungewöhnliche ihrer Situation. Doch schon nach den ersten fünfzig Schritten zwang sie sich zur Ruhe, um aufkeimende Panikgefühle zu unterdrücken. Für einen kurzen Moment blieb sie stehen.
»Du musst klar denken und schnell handeln. Was soll das alles? Was steckt dahinter?«, sprach sie zu sich selbst. Der ganze Vorgang hatte zwar nur wenige Sekunden gedauert, aber Livia war eines klar: Wenn Angelo ihr Haus, ihre Wohnung observieren ließ, so konnte es dafür nur ein einziges Motiv geben: VelázquezÕ Venus!
Genau besehen, war es der ideale Zeitpunkt für ihn, schoss es ihr durch den Kopf. Die Venus war von ihr in Zürich ausgelöst worden, war wohlbehalten in Mailand angelangt, dazu restauriert und fatalerweise ungeschützt und in greifbarer Nähe für irgendein Komplott. Sie hätte es wissen müssen, dass Angelo ihr diesen Teppich nur deshalb unter die Füße gelegt hatte, um ihn ihr im geeigneten Augenblick wieder wegreißen zu können.
Ihr Gefühl sagte ihr, dass Unheil in der Luft lag. Sie hatte daher nur einen einzigen Gedanken: Sie musste sofort zurück in ihre Wohnung, zurück zu Duncan.
Doch sie verlangsamte ihre Schritte wieder. Sie musste nun alles vermeiden, was bei dem Mann in Grau den Anschein erwecken könnte, dass sie Verdacht geschöpft hätte.
Schnell fasste sie ihren Plan. Sie sah die tristen Hinterhöfe vor sich, wie sie sich von ihrem Küchenfenster aus darboten. Es gab offene Durchgänge und somit Verbindungen zwischen den Höfen. Zwar waren diese voller dunkler und schmutziger Ecken, die man besser mied, doch man konnte durch sie hindurch unbesehen auch von der Seitenstraße her in die Häuser gelangen.
Entschlossen überquerte sie wieder die Via Botticelli. Sie fröstelte plötzlich. Es war einer jener Märztage, die sowohl wunderschön als auch sehr unangenehm sind: mit wolkenlosem, strahlend blauem Himmel, aber beängstigend kühl. Für Frühlingsbekleidung zu kalt, für Wintersachen schon zu warm. Dazu kam noch ein unangenehm frischer Wind, der ab und zu böig durch die Straße fegte.
Ohne sich umzublicken, bog sie in die nächste Seitenstraße ab, überflog die Fahrbahn mit einem raschen Blick und trat durch die erste offene Toreinfahrt hindurch. Sie registrierte die Hausnummer 13. Ein dunkler, muffiger Gang führte an zwei Steintreppen vorbei in einen engen Hof mit Unmengen von Wäscheleinen, Obststeigen und durchfeuchteten Kartonagen. Kindergeschrei empfing sie. Eine stark geschminkte Frau mit einer Schultertasche und den Bewegungen eines Zirkusgauls kam ihr entgegen und musterte sie, als käme sie von einem anderen Stern. Als sie endlich den dritten Durchlass passiert hatte, drang das vertraute Klavierspiel an ihr Ohr. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 05.05.2005