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Hastig blätterte er einige Seiten weiter: »Ý7. April 1649, Mittwoch, anstrengender Tagesritt nach Brescia ÉÜ«
»Offensichtlich ein Tagebuch«, meinte Livia.
»Und was für eines. Ich pack es wieder ein.«
»Was meinst du? Original?«
»Original oder Fälschung. Ich denke, ich kenne jemanden, der das herausfinden kann«, erwiderte er. »Und bei dem dieses Buch am besten aufgehoben ist.«
Wenig später, nachdem Duncan den weißen Knopf am Telefon gedrückt hatte, betrat das Trio von Transglobal auf leisen Sohlen wieder den Präsentationsraum.

Mailand, März 1965

D
uncan war seit Tagen mit einer geradezu fanatischen Detailarbeit beschäftigt, um seine Kopie der liegenden Venus zur perfekten Nachbildung des Originals zu machen. Es war kein Wunder, dass er jeden Tag immer noch winzige Abweichungen entdeckte, die ihm der Vorlage gegenüber bald zu undeutlich, bald überbetont erschienen und ihn wieder und wieder zu Pinsel und Palette greifen und nachbessern ließen É
Die beeindruckende Vorlage, das glücklich ausgelöste Venusbild, war vor Monaten in seiner ansehnlichen Holzkiste über die Alpen gereist. Die Spedition Transglobal hatte es in einem ihrer großen Lastwagen aus Zürich abgeholt und versehen mit den Zollpapieren für eine auf zwölf Monate begrenzte Einfuhr in das Atelier des Mailänder Restaurators überstellt, der im vergangenen Monat die Übermalungen heruntergeholt hatte. Duncan hatte einen früheren Mitarbeiter von Mailands altberühmter Gemäldegalerie, der Brera, damit beauftragt, die Feinarbeit vorsichtigster Reinigung an den sensiblen Partien vorzunehmen. Die Komposition sah in ihrer Gesamtwirkung jetzt prächtig aus. Nur noch die Fotoserie über die Freilegungsstadien erinnerte an die unsinnigen Schleier über den Oberschenkeln. ÝHosenmalerÜ hatte man vor Jahrhunderten den Überpinsler von Michelangelos Jüngstem Gericht genannt. VelázquezÕ Werk war jemand Ähnlichem in die Hände gefallen. Aber es war sehenswert, was nach Entfernen der ÝHosenÜ herausgekommen war! In makelloser Helligkeit strahlte nun die grazile Venus wieder in ihrer ursprünglichen Schönheit. Und in diesem Zustand hielt Duncans Kopie sie fest.
Am liebsten hätte Duncan das Original behalten, aber nach gründlicher Abwägung war er doch auf seinen ursprünglichen Plan zurückgekommen, sich von dem Bild zu trennen und dennoch die leuchtende Erinnerung an den gemeinsam gehobenen Schatz in Form einer perfekten Kopie zu bewahren.
»Auch ein Zehennagel will nicht vergessen werden«, murmelte er. Eigentlich war er schon fertig. Aber immer und immer wieder musste er auf der breiten Fläche seiner Kopie noch Kleinigkeiten nachbessern. Als Livia aus der Küche kam, sagte er: »Stell dir vor, ich hatte den weißen Lichtstreifen auf dem großen Zeh hier völlig übersehen.«
»Dass du so ein Tüftler bist, sieht man dir gar nicht an«, meinte Livia in einer Mischung aus Anerkennung und Ungeduld. »Aber wenn ich mit deinem Perfektionismus kochen würde, müsstest du verhungern. Liebling, das Essen ist fertig.«
»Ich liebe deine Küche! Nur noch einen einzigen Blick. Bitte!« Duncan deutete auf den Zehennagel. Livia, die sich hinter Duncans Malhocker gestellt hatte, betrachtete aufmerksam seine faszinierende Nachbildung. Der Unterschied war selbst für einen geduldigen Betrachter kaum noch auszumachen.
Schließlich drückte sie einen Kuss auf Duncans Wange. »Oh, wie ich diesen Terpentinduft liebe. Ich weiß, dass die Kopie für uns wichtig ist, aber ich freue mich dennoch, wenn du damit fertig wirst. Seit die Spediteure die große Kiste mit dem Bild bei uns abgeladen haben, kommt es mir so vor, als ob eine dritte Person hier wohnt.«
»Aber sie ist ein stiller Gast, der außerdem sehr diskret ist - und uns vor allem die Zukunft versüßt«, antwortete Duncan schmunzelnd.
»Trotzdem bin ich froh, wenn wir zwei es uns hier wieder einmal so richtig bequem machen können.« Sie umfing seinen Hals mit ihren Armen und drückte ihre Wange an die seine. »Ach, Liebling, im Grunde ist es mir egal, dass Kartons, Farbbeutel, Schälchen, Mörser und die Platte mit dem großen Reibstein meinen Schreibtisch blockieren. Wenn ich daran denke, dass wir uns bald ein Haus leisten können.«
»Vielleicht sogar mit Swimmingpool, wenn wir eines dieser beiden großen Bilder gut verkaufen«, meinte Duncan, während er aufstand. Er öffnete anschließend die Feststellschraube der Staffelei, schob diese hoch und hob umsichtig seine Kopie nach vorn herunter und stellte sie auf den Boden. Er entfernte die Schaumgummischicht, die er als Pufferfläche zwischen die beiden Bilder gelegt hatte, rückte das Originalbild in die Mitte zurück und kurbelte die Staffelei hoch. Nun konnte er sich von der frappierenden Übereinstimmung der beiden übereinander gestellten Bilder aus größerem Abstand überzeugen.
»Stell dir vor, das ist jetzt ein Preisausschreiben. Welche Abweichungen zwischen beiden Bildern kannst du entdecken?«
»Fast keine. Aber lass mich nochmals prüfen«, schlug Livia vor. Nach einer Weile deutete sie auf die Mitte des Frauenkörpers: »Vielleicht hat das Original ein etwas rundlicheres Bäuchlein als deine Dame.« Dabei zwinkerte sie Duncan an: »Du hast eben kein so barockes Ideal.«
»Du willst sagen, dass ich sehr verwöhnt bin durch meine gertenschlanke Geliebte.« Er zog sie an sich und legte den Arm um ihre Hüfte: »Aber sieh genau hin! Auf der Oberfläche des Originals ist da, wo du eine Modellierung feststellst, noch ein winziger Rest von Schmutz verblieben, der beim Reinigen in den kleinen Vertiefungen hängen geblieben ist. Und die ergeben sich aus der Leinwandstruktur, die sich durchgeprägt hat.«
»Und lässt du das jetzt so?«
»Na ja, ich sollte mir überlegen, ob eine Andeutung dieses historischen Charakters nicht ganz gut tut.« Er formte seine linke Hand wie zu einem röhrenförmigen Durchguck und hielt sie zur Eingrenzung vor sein linkes Auge. So besah er die Zonen um den hübschen Bauchnabel abwechselnd auf der Fläche oben und unten.
»Dein Vorschlag ist gut«, bestätigte er, »ich werde doch etwas von dieser Patina imitieren.«
Duncan griff sich einen trockenen Borstenpinsel, drückte ihn gegen die Reste des graubraunen Farbgemischs auf seiner Palette, kniete sich vor das untere Bild und tupfte es zart an mehreren Stellen an. Mit einem Lappen milderte und verwischte er den erzielten Effekt ein wenig. Dann stand er auf.
»Gut, dass ich weiß, dass du das Bild nicht verkaufen willst!«, sagte Livia bewundernd.
»Bestimmt nicht. Wenn ich mir schon die Mühe gemacht habe, ein Gewebe zu finden, das fast dieselbe Oberfläche hat, und die Grundierung so aufzulegen, dass das Profil der Fäden nicht mehr und nicht weniger herauskommt als bei Velázquez, dann nicht, um einen Käufer zu täuschen. Doch wir wollen schließlich eine perfekte Erinnerung haben an die Dame, die uns zusammengebracht hat!« Er umschlang sie und wirbelte sie mehrfach um sich herum.
»Hör auf«, flehte sie atemlos, »ich falle gleich in die Bilder. Und dann war alle deine Mühe umsonst.«
»Das will ich nicht É Vor allem, du bist so schwer zu restaurieren.« Leicht wie eine Feder setzte er sie ab.
»Deine Kopie ist genial!« Mit einem Schlag auf Duncans Schulter machte sich Livias Begeisterung Luft. »Willst du dein Werk eigentlich deinem verehrten Meister Ruhemann vorstellen?«
»Nichts lieber als das. Es wäre auch der richtige Test für seine Einschätzung des Originals. Ich möchte sehen, was für Augen er beim ersten Anblick macht.«
»Er sieht doch gleich, dass es eine nagelneue Leinwand ist«, wandte Livia ein.
»Hast du den Keilrahmen des Originals gesehen? Der ist nur ein halbes Jahr älter als meiner; der Restaurator hat den zu wackligen und morschen alten Spannrahmen durch einen neuen ersetzt. Versuche mal die Leinwand des Originals anzufassen!«
»Ziemlich neu É Sogar an der Kante.«
»Ja, weil das dünne und brüchige alte Gewebe auf eine feste neue Leinwand aufdubliert wurde. VelázquezÕ Leinwand reicht nur bis zu den Bildkanten. Und da ich für meine Kopie keine Malleinwand mit der richtigen Gewebestruktur finden konnte, habe ich ein dünneres Gewebe gekauft und dies auf eine feste Malerleinwand aufgeklebt.«
»Das ist ja tückisch. Du könntest mich jederzeit täuschen und statt des Originals deine Kopie in den Rahmen stecken. Woran kannst du denn selbst noch den Unterschied sehen?«
»Am Krakelee, den winzigen Sprüngen in der Farbschicht. Die könnte man nur durch künstliche Erhitzung in einem Ofen so erzeugen. Siehst du das Muster von feinen Sprunglinien hier oben?«
»Ja, sehr zart. Wenn du es mir so beschreibst, sehe ich es natürlich. Aber da muss ich meine Nase schon ganz nah draufhalten.«
Nach kurzem Überlegen bat Livia: »Willst du nicht für mich deine Signatur auf das Bild setzen?«
»Was meinst du, wie genau ich bin? Hintendrauf habe ich signiert: Duncan Munro nach Diego Velázquez, aber das sieht der gewöhnliche Betrachter nicht, da die Dublierleinwand drübergeleimt ist.«
»Ich möchte aber nicht erst zum Restaurator. Ich möchte sofort sehen, welches Bild deines ist.«
Duncan überlegte für einen Moment. »Du bringst mich auf etwas.«
Mit geheimnisvoller Miene ergriff er ihre Hand, tänzelte ihr voraus und zog sie sanft zur Tür hinaus. »Bitte warte hier einen kleinen Moment, bis ich dich rufe.«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 04.05.2005