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Dort haben wir optimale Bedingungen für die Besichtigung.«
»Ein guter Vorschlag. Der erste Eindruck ist immer der nachhaltigste«, sagte diesmal Duncan.
Cappella schritt wieder voran. Livia und Duncan folgten den beiden Packern, die das verhüllte Bild über den Zwischenflur in einen angrenzenden Raum vorantrugen, wo Cappella bereits Licht gemacht hatte.
Der Hauch eines unvollendeten Wohnzimmers umfing sie. In der Mitte standen zwei bequeme Sitzmöbel, um die zwei Tischchen und zwei Stehlampen gruppiert waren. Duncan legte das rätselhafte Päckchen auf einem der kleinen Tische ab. Von der Decke hingen an einer Lichtschiene einzelne Spotlichter, und vor einer dunkel gestrichenen Wand war eine stabile Staffelei platziert.
Auf ein Zeichen Cappellas setzten die Männer das Gemälde vorsichtig auf die Halterungsschiene. Dann gab er Anweisung, die Schiene auf ihre niedrigste Stellung herunterzukurbeln. An der Wand standen zwei Stühle, die der Hüter der Katakomben nun vor das Gemälde schieben ließ.
»Bitte nehmen Sie doch Platz!«, forderte er Livia und Duncan auf. »Wir werden Sie nun mit Ihrem Bild allein lassen. Enthüllen und genießen sollten sie Ihr Besitztum selbst. Sie sind hier völlig ungestört.« Daraufhin zeigte er auf drei Schalter. »Das Licht können Sie hier regulieren. Sehen Sie dort das Telefon? Drücken Sie den weißen Knopf, wenn Sie sich sattgesehen haben. Ich komme dann wieder, um Sie abzuholen.«
Cappella schloss die Tür hinter sich, und augenblicklich kehrte absolute Stille ein.
Livia und Duncan sahen sich an. »Ich glaube, mir versagen die Knie.«
»Setz dich bitte. Mach es dir bequem, mein Engel«, flüsterte Duncan.
»Ja, das ist gut. Ich muss mich erst noch ein wenig beruhigen.«
»Gibst du mir das Zeichen?«
»Ja, bitte noch einen kleinen Moment.« Livia vergrub das Gesicht in ihre Hände und verharrte so für einen Moment.
Nach einer Weile nahm sie die Hände wieder herunter und sagte zu Duncan: »Schlag das Papier hoch.«
»Mach ich. Warte! Wir wollen es gemeinsam entdecken. Schließ bitte die Augen. Ich stell mich dann hinter deinen Sessel.«
»Ja, machen wir es so«, willigte Livia ein.
Duncan schlug das Papier hoch, wandte sich ab, trat hinter ihren Sessel, schloss die Augen, legte seine Hände auf ihre Schultern, und nachdem er tief durchgeatmet hatte, sagte er: »Jetzt!«
Duncans Gesicht spannte sich, wurde beinahe finster vor Konzentration. Wie immer, wenn seine Urteilskraft gefordert war, schob er leicht das Kinn vor. Gebannt sah er auf das, was die Leinwand zeigte.
Auf dem Bild war eine liegende Frau zu sehen, die, auf den rechten Arm gestützt, ihn ansah. Die Frau war nackt. Schon der erste Eindruck sagte ihm, dass es die gleiche Person sein musste wie auf dem Gemälde in der National Gallery, wo sie dem Beschauer allerdings den Rücken zukehrte. Das gleiche Ambiente, der gleiche Malstil. Ein Schleier, offensichtlich später erst über ihre Blöße gemalt, passte nicht ins Bild. Außerdem lag ein dicker Schmutzfilm über ihrer Schönheit.
Duncans Hände drückten Livias Schulter. Er spürte, wie sich ihre Brust vor Aufregung hob und senkte.
»Das Bild ist unglaublich gut!«, stellte er fest. »Nur der Firnis macht es so dunkel. Wenn du hindurchsiehst, ekennst du die Qualität.«
»Ja«, seufzte Livia erleichtert, »das Bild ist umwerfend. Ich kann es immer noch nicht glauben, dass es nun vor uns steht und dass es mir gehört. Endlich hat Angelo einmal Wort gehalten.«
»Vielleicht steckt doch ein guter Kern in ihm. Komm, lass es uns näher betrachten«, forderte Duncan sie auf.
»Ist es É echt? Ist es ein Original? Ist es wirklich von É ihm?«, fragte Livia nach einer Weile zögernd.
»Psst!« Duncan hatte sich vor das Bild gekniet und inspizierte die Einzelheiten aus nächster Nähe. »Die Hand und die Finger sind perfekt. Hier sind die einzelnen Pinselstriche in aller Klarheit zu sehen É Und das Kinn und der Ohransatz sind auch in Ordnung. Und Mund und Nase.«
»Das heißt, es ist ein Werk des Meisters? Sag schon!«
»Es ist bisher ganz vieles sehr gut. Sehr, sehr gut! Trotz eines erheblichen Restes von Firnis und Schmutz sieht es so aus, als ob darunter makellose Partien herauskommen. Aber ich muss ausschließen, dass irgendetwas zu sehen ist, was auf einen Schüler oder einen Kopisten schließen lässt.«
»Und?«, fragte Livia nach weiteren Minuten, in denen sie unruhig vor dem Bild auf und ab gegangen war.
»Ich kann nichts finden«, meinte Duncan und stützte sich hoch ohne den Blick von dem Bild zu wenden.
»SagÕs doch endlich!«, rief sie.
»Es kann eigentlich gar nicht sein. Aber es gibt nicht den geringsten Grund daran zu zweifeln: Dieses Bild ist ein Gemälde von Diego Velázquez.«
Livia umschlang Duncans Hals, sprang hoch und hing mit ihrem Gewicht an ihm.
Duncan drehte sich und wirbelte sie herum. Dann setzte er sie vorsichtig wieder ab. »Dass es eine Velázquez-Komposition war, war schon vorher klar. Dass aber auch der typische Pinselstrich mit einigen immer wieder vorkommenden Flüchtigkeiten zu sehen ist, ist fabelhaft!«
Er deutete auf mehrere Faltenlinien des Betttuchs und zeigte ihr den Haaransatz, aber auch die flotte Pinselzeichnung der Füße: »Das ist seine Handschrift, die besagt mehr als jede chemische Analyse. Die Chemie braucht man nur, wenn man nicht weiß, woran man ist!«
Duncan ging etwas zur Seite, sodass er den Farbauftrag im Schräglicht kontrollieren konnte. »Es muss unbedingt gereinigt werden. Du wirst staunen. Wie wenn die Sonne eines neuen Tages aufscheint, so wird es nach der Reinigung strahlen!«
»So strahlen wie dein Gesicht?«, sagte sie keck.
»Ich kann das nur hoffen. Siehst du, man kann deutlich erkennen, wie die schwarze Schlacke nachträglich über das Bild gezogen wurde. Und hier«, er zeigte auf eine Stelle unter dem Bauchnabel, »kommt klar der Hautton heraus. Das heißt, der Restaurator wird die Übermalung leicht abnehmen können.«
»Vielleicht kannst du es mit einer kräftigen Seifenbürste wegputzen.«
»Du wärst mir die richtige Restauratorin!«, protestierte Duncan. »Es muss so perfekt gereinigt werden, dass die feine Haut kein bisschen verletzt wird. Und natürlich muss jeder Quadratmillimeter dokumentiert werden, der an diesem herrlichen Werk verändert wird.«
»Dann kopiere es doch, bevor ich es reinigen lasse. Dieser übermalten Dame verdanke ich, dass ich dich gefunden habe; ihre halbverschleierte Erscheinung sollte ein Maler festhalten!«
»Und du meinst, die freigelegte Dame brauche ich gar nicht, weil es ja dich gibt!«
»Ja, ich könnte glatt eifersüchtig werden É« Livia war aufgestanden und Duncan um den Hals gefallen. Er wehrte sie lachend ab.
»Ich werde es für dich kopieren«, sagte er, »aber erst nach der Entschleierung. Wenn wir uns dann von dem Original trennen müssen, wirst du zwar keinen Velázquez mehr im Hause haben, aber dafür einen echten Duncan Munro.«
Sie lachte ebenfalls. »Damit kann ich leben. Je länger, desto lieber.« Stürmisch liebkosten ihn ihre Lippen.
»Lass noch etwas von mir übrig«, erwiderte er atemlos. »Sonst wirst du mich gleich mit restaurieren müssen.« Duncan sah auf die Uhr. »Und was sagen wir zu Cappella?«
»Es bleibt dabei. Wie besprochen. Das Bild wird für kurze Zeit zur Restaurierung nach Italien ausgeführt werden. Eine vorläufige Einfuhr, wie du vorgeschlagen hast.«
»Und dann?
»Dann suchen wir uns einen fähigen Restaurator.«
»Und dann?«
»Nun, dann wirst du hoffentlich die Trustees der National Gallery in London dazu bewegen können, ein paar hunderttausend englische Pfund für dieses schöne Bild locker zu machen.«
»Und was ist, wenn ich mich von dieser blitzblanken Venus nicht trennen kann?«, fragte Duncan verschmitzt.
»Liebling, du wirst dich entscheiden müssen. Sie oder ich. Doch wenn du ohne sie nicht sein kannst, musst du eben wieder nach London gehen É«
Duncan zog sie an sich heran: »Engel, ich habe mich schon längst entschieden. Wenn ich dich in meine Arme nehme, wenn ich deinen Herzschlag spüre, deinen Atem am meinem Ohr, dann wünsche ich mir nur noch Eines: Bitte noch einmal, und dann É und dann immer wieder!«
Gerade als Duncan den weißen Knopf am Telefon drücken wollte, rief Livia: »Halt, was ist mit dem Päckchen dort?«
»Laß uns nachsehen É«
Vorsichtig entfernte Duncan die Umschnürung und löste danach kleine Klebestreifen ab, die offensichtlich jüngeren Datums waren als das Papier. »Es wirkt so, als ob dieses Bündel vor nicht allzu langer Zeit einmal ausgewickelt und dann provisorisch wieder verschlossen worden ist.« Vorsichtig legte er den Inhalt frei. Ein stark abgegriffener, weißer Einband aus Schweinsleder kam hervor. »Omnis mundi creatura / quasi liber et pictura / nobis est et speculum É Jedes Geschöpf der Welt ist für uns gleichsam ein Buch, ein Bild und ein Spiegel!« rezitierte Duncan.
Er schlug das Buch auf und hielt es in den grellen Lichtspot. Die Seiten waren in einer raschen, doch gut lesbaren Handschrift beschrieben.
»Halt dich fest, Livia! Es ist ein spanischer Text.«
»Du machst Witze!«
»Keineswegs.« Daraufhin schlug Duncan die erste Seite auf. Seine spanischen Sprachkenntnisse reichten gerade nur aus, um die obersten Zeilen zu entschlüsseln. »ÝAus den Tagebuchnotizen von Diego de Velázquez, aufnotiert von Juan de ParejaÜ«, las er stockend vor. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 03.05.2005