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Ich versuchte, im Irrsinn einen Sinn zu finden. Immer wieder stand ich kurz davor, nach Rom zurückzukehren.
Zum eisigsten Tag geriet für mich allerdings der 3. April. Es war Flaminias Geburtstag, ihr zweiundzwanzigster. Es hätte nicht viel gefehlt, und ich wäre nach Süden aufgebrochen. Doch ich verwarf diesen Gedanken. Danach fühlte ich mich ausgebrannt und konnte mich an nichts mehr erfreuen. Ich rasierte mich nicht mehr, blieb im Bett und verließ kaum noch mein Domizil.
Der Gewissensbiss begann mich zu vergiften. Hätte ich in Rom bleiben sollen? Flaminia hatte das sicher von mir erwartet. Warum bin ich nicht geblieben? Oder hätte ich mich klar und deutlich von ihr lossagen sollen, als ihr Gemahl zurückkehrte? Warum war und bin ich nicht dazu in der Lage? Vielleicht hatte sich Flaminia von mir schon längst abgewandt, während ich mit mir noch haderte É
Juan, der meinen Zustand mit Besorgnis beobachtete, setzte alles daran, um mich aus dem Schatten, der über mich gefallen war, herauszuführen. Er tat es mit Ausdauer und Geschick. Jedenfalls begann ich mich wieder anzukleiden, wenn auch erst gegen Mittag, um dann ein paar Schritte entlang der Kanäle Venedigs zu machen. Nur langsam begann ich wieder auf festen Boden zurückzufinden. Wie begreiflich sind mir doch all die Menschen, die eine Trennung von ihrer Geliebten erleben. Wie Orpheus fühle ich mich, der bis in die schwarzen Labyrinthe der Unterwelt hinabstieg, um seine Eurydike noch einmal zu sehen. Juan schlug mir vor, dass ich wieder male. Doch es gab nichts, was mich hätte dazu bringen können, Palette und Pinsel in die Hand zu nehmen. Und das, was mein Inneres bewegte, gehörte auf keine Leinwand. Es gehörte eher an ein Kreuz geheftet!
Der Frühling kam mit Macht, und der venezianische Barbier, der so reiche Ernte an Malerei für mich eingefahren hatte, wusste mich zu einem Besuch in der Casa di Desdemona zu bewegen. Wer alles bezahlte, blieb das Geheimnis meines treuen Begleiters. Jedenfalls taten mir die geschickten Frauen dort wohl. So genau erinnere ich mich nicht mehr, doch ich muss gute zwei Tage in diesen Mauern verbracht haben. Langsam begriff ich, dass das Leben weitergehen muss - ob mit oder ohne meine geliebte Flaminia É
Anfang Mai waren alle Verabredungen in Venedig getroffen, und ich machte mich auf den Weg nach Genua, um von dort aus nach Madrid zurückzukehren, jedoch mit dem festen Vorsatz, die Planungen für eine dritte Reise nach Italien sofort in Angriff zu nehmen. Meinen Entschluss und meine Hoffnungen schrieb ich nieder.
Unverzüglich begann ich eine Aufstellung von weiteren Abgüssen und Bildern anzufertigen, die günstig zu haben waren und nur noch meiner geschickten Verhandlungen bedurften. Ich war mir fast sicher, der König würde eine dritte Reise nach Rom befürworten.
Juan war erleichtert und nahm mit großer Freude meine Anweisungen entgegen, zusammen mit Esquivel alles für die Reise nach Genua vorzubereiten.
Am 10. Mai trafen wir wieder dort ein, wo meine Mission vor über zwei Jahren ihren Ausgang genommen hatte. Hier wurde ich großartig aufgenommen und von reichen Edelleuten in ihre Häuser gebeten. Ich musste mehr Absagen aussprechen als mir lieb war, da die Santa Maria de la Rosa zur Abreise nach Valencia bereit lag É
Ich sagte kein Wort zu Esquivel, als er mir vor wenigen Augenblicken einen Brief von Flaminia überbrachte. Ich schnupperte am Pergament, als wollte ich einen von Flaminias Düften wahrnehmen. Wahrscheinlich konnte Esquivel in meinem Blick die quälenden Gedanken lesen, als ich stumm nickend den Brief zwischen zwei Knöpfen hindurch an meine Brust schob.
Es ist sicher der letzte, der mich auf Italiens Boden erreicht. Ich möchte ihn so schnell wie möglich lesen. Unschlüssig blicke ich hinauf zu den Masten der Galeone Santa Maria de la Rosa. Soll ich ihn hier auf der Mole lesen oder erst in meiner Kajüte? Vielleicht enthalten die Zeilen diesmal mehr Hoffnung als Schmerz?
Viel zu überlegen gibt es nicht. Die Luft riecht nach Regen. Die Salzluft, das Holz der Schiffe, der Gestank von Fischblut und das Brackwasser des Hafens vermischen sich schon zum Geruch der Überfahrt. Über dem Wasser tanzen die Mücken, als würden sie sich darüber freuen, dass ich Italiens Boden verlasse.
Mein Blick geht hinauf zum Hüttendeck. Da ich niemand entdecken kann, entschließe ich mich, Flaminias Brief auf den Schiffsplanken zu öffnen. Über das Fallreep gelange ich auf das Oberdeck und von dort auf das Quarter- und schließlich auf das Hüttendeck. Angelehnt an den Bonaventuramast, fetze ich das Siegel auf. Meine Hand beginnt unwillkürlich zu zittern, als ich Flaminias unverwechselbare Handschrift erblicke und beginne, die Zeilen zu lesen É
Mein geliebter Diego,
setze dich ein wenig hin und hülle dich in Licht. Es gibt nicht überall nur Schatten! Du musst es dir bloß denken, und schon bist du übergossen davon. Genauso sitze ich im Licht, während ich dir diese Zeilen schreibe. Ich schöpfe dieses Licht aus den liebevollsten Gedanken, derer ich fähig bin, für dich, meinen Geliebten, den Vater des Kindes, das ich unter meinem Herzen trage.
Stelle dir ein unsichtbares Band vor, das dich mit mir verbindet. Du hast keines? Nimm einfach das Band des Liebesgottes, das den Spiegel in unserem Gemälde ziert. Wenn du so weit bist, dann sende dein Licht entlang dieses unsichtbaren Bandes zu mir É
Ich stelle mir gerade vor, wie mein Herz den Zugang zu deinem findet. Spürst du, wie das Strömen meiner Lebenswärme dein Herz erhellt? Ich lasse sie weiterfließen, während ich dir schreibe.
Ich verzeihe dir. Meine Seele liebt und versteht dich. Wir beide sind nur Liebe. Alles andere, was uns quält, ist ein Trugbild. Sind wir getrennt? Nein, wir sind es nicht. Ich lasse das Trugbild deiner Abwesenheit jetzt los. Meine Liebe soll dir helfen, zu entdecken, wie nah ich dir bis ans Ende deines Lebens bin, auch wenn du dich entschieden hast, mich für immer zu verlassen, um in Madrid deinem König zu dienen. Doch ich werde und kann dich aus meinem Leben nie entlassen. Denn seit sechs Monaten trage ich unter meinem Herzen ein neues Leben. Es ist deins und meins.
Es fällt mir unsagbar schwer, doch du solltest es wissen: Gerade jetzt möchte ich dich hören, spüren und lieben. Du fehlst mir, so wie die Luft einem Ertrinkenden fehlt. Ich sehne mich danach, mich an dich zu schmiegen und zärtlich zu dir zu sein. Erinnerst du dich, wie unsere Lippen und Hände uns so zärtlich berührt und ertastet haben? Ich möchte dir in deine Augen sehen und dabei mit dir eins sein. Ich sehe dich vor mir, und ich flüstere dir zu: Ich brauche dich und deine Liebe so sehr. Wie sagtest du einmal: Mit Vergessen ist es vorbei! Wir verlieren uns erst, wenn wir nicht mehr aneinander denken.
Der letzte Brief von dir war düster. Ich spüre, dass Traurigkeit und Verzweiflung deine Seele beschatten, dass du an einem Punkt angelangt bist, von dem aus du nicht weiter weißt.
Mein geliebter Diego, wir hätten uns alle unsere Zeit und alle unsere Liebe schenken können - doch dein Leben ist so fest verankert, dass dein Schiff nie in meinen Hafen segeln wird.
Nun hast du dich entschieden, deinen früheren Weg fortzusetzen und dich wieder an den Hof von Madrid zu begeben. Du schreibst mir, dass dich die Trennung von mir tief schmerzt. Du willst versuchen zurückzukehren. Was soll ich dir darauf antworten? Dein Leben zeigt dir, wo du stehst, und dein Herz wird dir sagen, wo du hin willst.
Wenn dich wirklich etwas tief berührt, dann wirst du es unfehlbar spüren und deinen Weg wissen. Ich hoffe, du wirst die Kraft finden, deinem Herzen zu folgen. Also, tritt in das Licht, und alles wird leichter und schöner werden.
Dein Lebensweg liegt jeden Tag in jedem Augenblick ganz neu vor dir, und du darfst dich entscheiden - immer wieder.
Vielleicht stehst du eines Tages auf und entscheidest dich neu. Ich kann nur hoffen, dass dieser Tag kommen wird. Vielleicht wird dein Ziel dann Rom sein É
Ich liebe dich bis an das Ende meiner Tage.
Deine Flaminia
Mir ist, als versinke das Schiff unter mir. Meine Augen werden feucht, und ich sinke auf die Planken nieder. Meine Seele weint. Ich schließe meine Augen und sehe ihr Gesicht so nahe, dass ich es streicheln und küssen möchte. Die Verzweiflung, es nicht zu können schnürt mir die Kehle zu. Ich stelle mir vor, dass ich über drei Monate nichts von ihr lesen werde und über ein ganzes Jahr nichts, und heißer als ich je etwas bereute, bereue ich, dass ich aus Rom fortgegangen bin.
Ich weiß nicht, wie lange ich so gesessen bin, doch plötzlich vernehme ich eine Stimme, die wie aus einer anderen Welt mich fragt, ob ich nicht heute Abend sein Gast sein möchte. Es ist die Stimme von Juan Romero, dem Kapitän. Ich nehme seine Einladung an und lasse mir meine Kajüte zeigen. Sie liegt gleich neben der seinen und ist großzügig ausgestattet. Mein Gepäck ist zum Glück schon an Bord gebracht worden, was mir hilft, den geschwätzigen Señor abzuwimmeln, da ich ihm glaubhaft versichere, dringend noch eine Depesche verfassen zu müssen.
Als sich die Tür schließt, werfe ich mich auf die Koje und verfluche das Uhrwerk der Sterne, die griechischen Schicksalsgötter mitsamt den allzu vielen Heiligen, die Flaminia und mich im Stich gelassen haben É
Später, als ich mich wieder gefasst habe, drängt es mich, noch auf Italiens Boden, meine Antwort an Flaminia zu schreiben. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 25.04.2005