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Sie hat seine Haare gekämmt und aufgepasst, dass er anmutig dasaß. Er kniete am Fußende und meine bekleidete Venus achtete darauf, dass ihm der teure Spiegel nicht aus der Hand fiel. Sie las ihm Geschichten vor, von denen er nicht genug bekommen konnte. Warum sollte das Rezept, das für den Papst gut war, nicht auch bei einem Kind wirken? Trotzdem hieß es sich zu beeilen. Erfahrungen mit früheren Kindersitzungen haben mich gelehrt, mich mit Süßigkeiten zu versorgen, um die Geduld der Kleinen zu zuckern, damit sie mir nicht vorzeitig vom Bett springen.
Das Bild ist fast vollkommen. Die Umrisslinie des Kindes antwortet wie ein verkürztes Spiegelbild auf Flaminias Kontur. Die unwissende Grazie des Kindes korrespondiert mit der bewussten Natürlichkeit und entfalteten Schönheit Flaminias. Und dennoch habe ich mir einen Eingriff in diesen Blumenstrauß vorgenommen.
Eine Maske muss sein. Niemand soll sie erkennen, niemand soll dieses Leuchten in ihren Augen genießen können. Ich kann nicht anders.
In den zarten Linien im Spiegel ist ihr Gesicht schon andeutungsweise angelegt. Ihre Augen, ihr fein geschwungener Mund lächeln mir entgegen. Ich verwische sie und bin traurig. Was ich tue, ist ein Stück Tilgung unserer gemeinsamen Liebesgeschichte.
»Was zeigt der Spiegel?«, fragt mich Flaminia, welche diesen jetzt langsam für mich schwenkt und kippt, näher und fernerrückt, was die verschiedensten Bilder entwirft. Wenn ich den Gesetzen der Reflexion folge, gibt das Glas, so wie es jetzt platziert ist, Flaminias Brust und ihren flachen Bauch wieder. Ich taste mich mit flüchtigen Strichen an diesen Eindruck heran und verwerfe ihn. Alles an ihr ist wohlgeformt und in seiner Schönheit symbolisch für die Vergänglichkeit, aber andere würden das falsch verstehen. Von Haro angefangen, dem ich solche Anblicke meiner Geliebten weder gönne noch ausliefern werde.
»Es soll nicht dein bezauberndes Gesicht zeigen. Das ist etwas, was ich in meinem Herzen bewahren möchte.«
Ich benütze einen Rest der noch durchschimmernden Kopfmodellierung und deute mit wenigen Schatten- und Lichtangaben ein Frauengesicht an, das anders als das ihre geformt ist. Es soll nur vage und unscharf sein. Die unverwechselbaren, ebenmäßigen, engelsgleichen Gesichtszüge Flaminias gehören jetzt nur noch meinem Gedächtnis.
Gut, dass ich genügend Skizzen von Flaminias Kopf angefertigt habe, die mir gestatten, die Erinnerung wach zu halten und auch zukünftig in meine besten Bilder einfließen zu lassen.
Ich kann es nicht vermeiden, doch jeder Tag, jeder einzelne Schritt, der zur Vollendung des Bildes führt, betrübt mich. Vielleicht ist es auch das unweigerliche Heranrücken des Endes unserer unvergleichlichen Beziehung, denn in wenigen Tagen wird Flaminias Mann heimkehren, und ich werde mich endgültig zu entscheiden haben, ob ich nach Madrid zurückreise oder nicht É
Ich zwinge mich, diese bedrückenden Gedanken aus meinem Kopf zu verbannen, und prüfe, was sich prüfen lässt. Auch die räumliche Wirkung, die ich nach alter Malermethode feststelle, indem ich das Gemälde auf den Kopf stelle, sodass meine Venus wie auf einem Wunderbild schwebt. Losgelöst von aller alltäglichen Betrachtung sehe ich, dass der Komposition ein ruhiger, gleichmäßiger Rhythmus zugrunde liegt. Das Gleichgewicht zwischen den Bildteilen stimmt, die Farbwerte und -flächen gleichen sich aus.
Meine Flaminia verbindet Feuer und Schnee, besitzt Sanftheit und Stärke und ist ein Gedicht im Gedicht. Sie ist ein Bild der Lust und Verlockung und zugleich eine wahre Vorstellung der göttlichen Schönheit. Ich habe sie angelehnt an die Überlieferung der schlafenden griechischen Göttinnen gemalt, gleich groß und aus derselben Entfernung gesehen wie auf den venezianischen Gemälden. Die Tücher, von Flaminia arrangiert und von mir in Form gebracht, sind Original und Zitat zugleich. Genauer kann man Überlieferung und Wirklichkeit nicht aufeinander abstimmen. Mir schmerzt das Herz, wenn ich daran denke, dass meine Venus zusammen mit einer zweiten, dritten oder gar vierten an einer Wand zu sehen sein wird. Der Auftrag ist zwar damit erfüllt, und ich könnte gut doppelt so viel Geld dafür von de Haro fordern, doch das tröstet mich nicht. Je mehr das Bild seiner Vollendung entgegengeht, umso heftiger quält mich der Gedanke, dass ein anderer Mann sich schon bald an dem Anblick von Flaminias nacktem Körper ergötzen wird. Obwohl Don Gaspar de Haro, Marqués de Eliche, nie erfahren wird, wer sie ist, gönne ich niemandem diesen herrlichen Anblick, niemandem außer mir selbst.
Flaminias Vollkommenheit ist zu schade für diesen Lüstling. Allein bei der Vorstellung, ihn mit triefenden Lefzen vor dem Bild sitzen zu sehen, überläuft mich ein Schauder É
Und doch habe ich keine Wahl. Nur er kann sich solche nackten Göttinnen aufhängen, die mit denen des Königs konkurrieren. Für ihn ist durch mich seine lüsterne Venuswand lediglich passend ergänzt worden. Vermutlich wird er meinen Namen gar nicht erwähnen, denn ein aus dem fernen Italien eingeführtes Bild ist etwas anderes als eine Bestellung bei einem Madrider Maler. Ich werde die Signatur weglassen. Ich bin mir sicher, in seinen verschlossenen Gemächern wird er aus eigenem Interesse mein Bild nur Besuchern zugänglich machen, die nicht mit der Inquisition im Bunde stehen.
An meiner häuslichen Wand wäre Flaminia dagegen Anlass für einen Sturm von Fragen, die nur auf eine einzige Vermutung hin ausgerichtet wären: Wer ist die Dame? Ist sie Diegos Geliebte?
Welch wahnwitziger Gedanke! Nein, dies steht außer Frage. Allein wenn ich an meine Familie denke. Daneben brauche ich mir nur noch Beichtvater Fischauge mit seinen durchdringenden Blicken vorzustellen. Er könnte es nicht erwarten, bis er meinen edlen Schatz vor ein ganzes Tribunal schwarz gekleideter Männer trägt!
Vielleicht sollte ich nicht an das Unverständnis von Menschen denken, welche die Grotte der Venus, einer reinen und liebenden Venus, nie mit offenem Auge betreten haben. Ich weiß, dass ich die wunderbare Vision der Schönheitsgöttin so wahr und eindringlich malen kann wie kein anderer. Und ich feiere jeden Augenblick, in dem mir der Anblick Flaminias vergönnt ist.
»Du bist wunderschön!«, melde ich mich aus meinen Gedanken heraus wieder bei Flaminia.
»Meinst du mich oder das Bild?«, fragt sie mit sanfter Stimme.
»Beides. Das Vorbild der Natur ist zwar unerreichbar. Aber das Bild ist schön, weil es mich an dich erinnert.«
Ich lege die Palette geräuschvoll ab, was Flaminia zu deuten weiß.
»Ist es vollendet?«
»Du bist es!«
»Darf ich sehen?«
»Ich bitte darum.«
Als Flaminia zu mir kommt, trete ich hinter sie und umfasse sie mit beiden Armen. »Die pure Lust am Dasein hat mir die Farben gemischt, meine Göttin«, flüstere ich in ihr Ohr.
Sie schweigt lange. Dann sagt sie: »Diego, du hast damit die Zeit angehalten. Unter deinen Pinselstrichen bleibe ich jetzt ewig jung.«
»Glücklich?«
»Mehr als das«, antwortet sie. Daraufhin blickt sie zu mir hoch und fragt: »Bin ich für dich die schönste Venus?«
»Du bist die Schönste. Denn wenn ich mir die reifen, schwerfällig modellierten Leiber Tizians mit ihrer Körperfülle ins Gedächtnis rufe, dann weiß ich, dass der Gute nie ein nacktes Modell vor Augen gehabt hat. Und eine Venus, die so sichtbar hinter der gottgegebenen Natur zurückbleibt, verdient nicht, gemalt zu werden. Aber umso mehr die, die ich vor Augen habe.« Meine Hände streifen ihre Hüften entlang. »Ja. Die Leinwand kann dich nicht ersetzen.«
»Willst du mich wirklich hergeben?«
»Es fällt mir wahrlich schwer!«
»Dann male mich noch mal.«
»Ja, das werde ich tun. Doch diesmal werde ich deine köstliche Vorderansicht wiedergeben. Und dieses Bild wird allein für mich sein.«
Flaminia schlingt ihre Arme fest um meinen Hals und blickt mich voll an. »Vielleicht brauchst du überhaupt keines von mir. Du hast doch mich, dazu so lebendig wie Gott mich schuf.«
Ich drücke sie fest an mich. »Ja, ich habe nur einen kleinen Teil deiner göttlichen Nacktheit gemalt. Dein lebendiges Fleisch ist aber durch kein noch so gelungenes Gemälde zu ersetzen. Ich liebe dich unendlich É«
Wenig später erwidert Flaminia: »Vielleicht kommt es ja anders. Irgendwann zählt mein Reiz dort auf der Leinwand zu deinem Reichtum und dient zur Rettung deiner Seele - wenn eines Tages alles andere für dich keine Bedeutung mehr besitzt.«
Ich nehme Flaminia wortlos auf meine Arme, hebe sich hoch und trage sie hinüber zum Podest.

Genua, 14. Mai 1651

M
eine Abreise von Genua nach Valencia ist mit keiner anderen Fahrt zu vergleichen. Es wird für mich weder eine Ankunft noch ein Wiedersehen geben. Meine Seele wird dort nicht ankommen, wohin man mich gerufen hat, und sie wird nicht nach dorthin zurückkehren können, wo sich mein Leben in so hohem Maße erfüllt hat. Madrid und Rom erlebe ich inzwischen wie zwei sich entfernende Gestirne É
Ab dem Tag der Rückkehr von Flaminias Gemahl, Ende September vergangenen Jahres, brach für mich die Zeit eines Martyriums an. Flaminia und ich waren die Wochen davor in unserer verliebten Zweisamkeit so versunken, dass wir das herannahende Grollen des Donners nicht hörten. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 22.04.2005