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Ich trete an der Leinwand vor und zurück, um die wichtigen Umrisse der Gestalt hervorzuheben und andere abzudämpfen. Ich vergleiche. Schenkel, Gesäß, Hüfte und Rücken - der unvergleichliche Eindruck von Schlankheit, Geschmeidigkeit und Beweglichkeit, hier ist er in Form gebannt. Die aus geometrischen Entsprechungen geschaffene poetische Formel ihres Körpers ist auf der Bildfläche das erste Mal greifbar.
Schweiß rinnt mir von der Stirn. Die innere Anspannung fährt mit einem Atemstoß aus meinen Lungen.
»Ist es gelungen?«, fragt daraufhin Flaminia leise.
»Ja. Du hast es gespürt, nicht wahr?«
»Und wie!«
»Nun werde ich beginnen, dir das Leben einzuhauchen.«
»Mir ist ganz heiß.«
»Ich werde dich mit kühlen Farben erfrischen.«
»Ja, aber bringe das Feuer nicht zum Erlöschen.«
»Dann sollte ich wohl mit deiner Hüfte und deinen langen Beinen anfangen?«, schlage ich vor.

Rom, 23. Juni 1650

M
it jeder Bewegung versprüht Flaminia morgendlichen Glanz. Sie ist dabei, das dritte Mal für mich Modell zu liegen. Ich werfe mich in den Sessel, schließe die Augen, atme hörbar, gleichmäßig. Ich genieße ihre Nähe. Mit einem Male fühle ich wieder wohlige Ruhe um mich her.
In der Morgenfrühe war ich wieder zur Casa di Flaminia geeilt. Mir ist, als hebe sich eine schwere Glocke, welche diese Nacht der Entbehrung über mich gestülpt hatte. Kaum erwache ich aus dem gerade gestillten Verlangen, schon bin ich durstig nach neuer Erfüllung. So vermisste ich schon nach wenigen Augenblicken nicht nur die erregende Zweisamkeit, sondern auch das Fehlen ihrer Stimme, ihres Anblicks, ihres Duftes, ihrer zarten Berührungen. Gewiss, ich versuchte die plötzliche Leere zu ersetzen durch Lüste des Träumens und der Fantasie, durch die bildliche Vergegenwärtigung ihrer Anwesenheit, durch die Erinnerung an den Wiederklang ihrer Stimme in mir. Dies alles half mir, die aufkommende Sehnsucht und Melancholie zu überbrücken - wenigstens zeitweilig É
Gerade das gemeinsame Lachen, das unsere Körper in Schwingungen versetzte, begann ich schon nach wenigen Stunden zu vermissen.
Flaminia inspiriert mich wie nie jemand zuvor. Ich habe Kräfte, von denen ich lange nichts mehr wusste, fühle mich zu Dingen fähig, an die ich lange nicht mehr geglaubt habe. Vielleicht könnte ich mit Malen allein etwas Überragendes vollbringen. Muss ich denn meine Würde nur aus dem Höflingsleben beziehen?
Meine Venus liegt nun wieder vollkommen still auf dem Podest. Die gleiche Haltung, die gleiche Pose. Perfekt. Mit einem Blick überfliege ich den Arbeitstisch. Pareja hat wieder ganze Arbeit geleistet.
»Warum nur hast du mich gestern weggeschickt?«, frage ich, während ich die Farben auf meiner Palette mische.
Ich spüre ihr Lächeln, auch wenn ich es nicht sehen kann. »Frauen folgen einem bestimmten Gefühl. Vielleicht braucht es einen Schleier, der ein wenig die Sicht trübt. Der Traum vom immer währenden Einssein, den du herbeisehnst, ist leider nicht zu erfüllen, Liebster.«
»Du meinst, Liebe und Lust sollten gepaart sein mit Verzicht?«
»Vielleicht É«
»Kann denn die Liebe durch berechnendes Handeln gesteigert werden?«
»Liebe? Niemals! Aber die Lust. Manch eine Lust ist wie Schießpulver - sie verpufft. Doch ich denke und fühle mit dir. Lass uns den Genuss unseres Beisammenseins dadurch erhöhen, dass wir aufeinander warten. Hast du die letzte Nacht sehr an mich gedacht?«
»Und wie. Es war kaum auszuhalten É«
»Glaube mir, Diego, mir ging es ebenso. Ich schickte dir mit Tauben zärtliche, süße Küsse. Hast du nicht meine Lippen gespürt?«
»Ja, aber É«
»Glaube mir, die Erinnerung aller deiner Sinne ist dadurch tiefer geworden É«
»Du machst mich verrückt!«
»Ich wünsche mir, dass unsere Liebe mit all ihrer Leidenschaft und Anziehungskraft nicht nachlässt, und ich verspreche dir, ich werde alles dazu tun, damit es so bleibt. Auch ich hätte dich gern vergangene Nacht an mich herangezogen und wäre auf dem Gipfel unserer Leidenschaft mit dir eins gewesen.«
»Hast du denn Angst, unsere Lust könnte schwinden?«
»Nein, aber sie ist doch eine Lebenskunst. Wendest du nicht die gleiche Klugheit an, wenn du malst, Liebster? Du wirst mit dem Rücken der Venus immer wieder neugierig auf die unsichtbare Vorderseite machen. Obwohl du sie nicht siehst, hast du doch mächtig Lust darauf, sie betrachten zu wollen. Ist es nicht so?«
»Zwischen Lust und Sehnsucht spannt sich das Leben.«
»Dann vollende diese Spannung auf der Leinwand!«, erwidert sie mit gespielter Strenge.
Man sagt, nur wenige Male in jedem Jahrhundert wird eine natürliche Schönheit geboren. Flaminia ist etwas dergleichen. Zart und elegant streckt sie sich auf dem Podest wie auf der Leinwand. Ich bin stolz, dass ich so viel von ihrer Grazie in die spröde Materie eines Tuchs übertragen konnte, das über einen Rahmen gespannt und an die Wand gehängt ist. Ist es doch fast vermessen, die Seele eines Menschen oder die Idee der menschlichen Schönheit auf eine solche Fläche bannen zu wollen.
Aber so, wie ich weiß, dass Flaminia mehr ist als nur äußeres Ebenmaß, so ist jedes Gemälde auch ein Versuch, an die unsichtbare Wirklichkeit zu erinnern. Es soll das wiedergaben, was hinter den Erscheinungen steckt. Und dazu genügen nicht Nase, Knie und Zeh, sondern ich brauche Zeichen für das Höhere. Die Wirklichkeit der menschlichen Schönheit, die ich an Flaminia erlebe, heißt Venus. Und ich brauche das Zeichen der Vergänglichkeit dieses Erlebnisses, am verständlichsten einen Spiegel, damit ich erkenne, dass Flaminia ein vergänglicher Spiegel der Erfahrung Venus ist. So brauche ich auch den Amorknaben, dessen Pfeile das Feuer der Venus im Herzen entzünden.
Links im Bild habe ich erheblichen Raum gelassen. Hier werde ich den kleinen Amorknaben platzieren, der den Spiegel für meine Venus hält. Heute noch wird der Knabe gebracht und mit ihm der präparierte Flügel eines Fischreihers. Bänder und Schärpen zur Dekoration liegen für ihn bereit É
»War der Papst auch so geduldig wie ich?«, fragt Flaminia in die Stille meines Malens hinein.
»Das wage ich nicht zu vergleichen. Einmal hat er einen Vorleser kommen lassen, der aus einem Buch abenteuerliche Berichte von Missionaren vortrug. Ich hatte ihm das vorgeschlagen, damit sein Gesichtsausdruck lebhaft bleibt.«
»Das wäre doch eine gute Idee; so stillzuhalten strengt schon an.«
»Aber die Situation ist doch ziemlich anders«, beteure ich.
»Du meinst, wenn meine Augen zufallen, siehst du es nicht.«
»Auch das stimmt, doch das, was ich gerade von dir male, ist überhaupt nicht müde«, sage ich aufmunternd, denn mir gelingt im Moment jeder Pinselzug.
»Ich liebe dich«, ruft sie und wirft mir mit einer Bewegung ihres linken Armes einen Kuss zu.
Ich lege meinen Pinsel ab. Mir ist etwas aufgefallen, was bisher im Verborgenen lag. »Mach das noch mal mit dem Arm!«, fordere ich sie auf. »Aber bleibe genauso liegen.«
»Ich liebe dich!«, ruft sie abermals und wirft mir wieder einen Kuss zu.
»Ich liebe dich unsagbar. So sehr, dass ich jetzt hier bleiben muss und dich nicht einmal küssen kann. Liebste, wirf mir bitte nochmals einen Kuss zu! Du siehst vollendet aus.«
»Wie oft soll ich das noch machen?«
»Es ist schön, wenn dein Arm sich hebt, und ich wüsste gern, wie es aussähe, wenn du deinen Arm vor den Oberkörper nehmen würdest, statt ihn seitlich anzulegen wie bisher.«
»Etwa so?« Sie legte den Arm vor die Brust. »Jetzt siehst du sicher nur noch ein Stück Schulter auf meiner linken Seite. Stimmt das jetzt noch mit der Venus deiner Skizze überein?«
»Du wirst staunen. Wenn du sehen könntest! Aber lass mich malen, dann kannst du es gleich auf dem Bild sehen, welche herrliche Linie sich von deiner Hüfte her aufsteigend bildet. Den Schwung deiner Hüfte sieht man überhaupt erst deutlich, wenn der Oberarm dort nicht stört.«
»Ist deine Venus noch schöner geworden?«
»Sie wird immer mehr zur Venus Flaminia.«
»Schön, ich liebe es, wenn du ganz von mir besessen bist.«
»Du wirst gleich sehen. Diese Änderung ist einfach brillant.«
»Ist die Farbe schon angetrocknet, oder kannst du sie noch mit dem Pinsel wegreiben?«
»Nicht ganz. Ich ziehe einfach das grüne Tuch über die helle Stelle, die vom Arm zurückgeblieben ist. Die wenigen Auserwählten, welche dieses Bild zu sehen bekommen, werden es nicht bemerken É«

Rom, 26. Juni 1650

D
er Bildeindruck rundet sich. Venus schimmert als kostbare Helligkeit. Noch einmal prüfe ich die Farbwirkung des Vorhangs, vor dem der Cupido mit dem Spiegel kniet. Das Weinrot verleiht dem Bild Intimität und Feierlichkeit. Ich habe es nur locker mit dem Borstenpinsel anskizziert, so ist es duftig geblieben und wirkt nicht zu dunkel.
Der kleine Junge hat brav stillgehalten. Flaminia hat ihn bei ihrer Waschfrau gegen einen Korb mit Früchten ausgeliehen. Er hieß Giovanni und saß so, wie der kleine Johannes sonst unterhalb der Madonna sitzt, diesmal aber eben zu Füßen meiner Geliebten.
Das war sehr geschickt, denn Flaminia war zu seiner Aufsicht eingesetzt. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 21.04.2005