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Ich versuche mir jede Berührung einzuprägen, jede ihrer Bewegungen, den Geruch ihres Haars und ihrer Haut, gemischt mit den Blumendüften, mit denen sie sich veredelt hat.
Aus der Fessel ungezügelten Rausches lösen wir uns mehr und mehr in eine begeisterte Übereinstimmung, in immer neue Versuche, uns gegenseitig von dem Feuer unendlicher Liebe abzugeben. So wie ich Zärtlichkeit von ihr empfange, teile ich ihr mit allen Bewegungen und allem mir möglichen Empfinden meine Zuneigung, meine Begeisterung und meine brennende Leidenschaft mit. Wir erleben ein Zusammenströmen und schwereloses Einigsein wie die Akkorde eines gemeinsamen Gesangs, wie den Strom einer mächtig uns forttragenden Musik.
Unsere Körper ermatten schließlich, während das übermächtige Wohlgefühl uns im Einklang mit dem Jubel unserer glücklichen Herzen weiter trägt.
Ich weiß nicht mehr, wie lange wir nebeneinander gelegen haben, doch irgendwann höre ich Flaminia flüstern: »Mein Liebster, die Farben warten É Sie rufen dich, du möchtest beginnen.« Die Art, wie sie mich leise und doch klar und deutlich auffordert, treibt mich zum Handeln.
»Das Licht ist vorzüglich. Alles ist vollkommen. Ja, lass mich mit unserem großen Vorhaben beginnen«, flüstere ich zurück.
Langsam krabble ich vom Podest herunter, kleide mich halb an, trete zurück bis zu den Fenstern und betrachte meine sich herausfordernd räkelnde Geliebte. Das Licht durchflutet gleichmäßig den großzügigen Raum, nur sanfte Schatten modellieren den schönsten aller Körper.
»Señor Diego Velázquez, Pintor de Cámera!«, imitiert sie den harten spanischen Klang. »Wie soll ich dem Meister zuliebe liegen?«
Längst habe ich das Bild in seiner Komposition wieder und wieder in meinem Kopf entworfen. Es wird unvergleichlich anders werden als die bekannten rosigen, fleischigen, weißen und vor Fett überquellenden Fantasien meiner Rivalen in Italien oder Flandern, die bestenfalls hässliche Doñas desnudas sind.
Mein Bild wird edler und zugleich wahrer sein. Edler wird es sein durch Harmonie einer göttergleichen Haltung. Flaminias feine Linien und die schlanke Silhouette ihrer Figur sind das beste Vorbild, das dafür auf dieser Erde zu finden ist.
»Ich möchte dich als Venus in Ruhe malen, so wie Tizian es tat. Aber bitte mit dem Rücken zu mir. Doch lass uns erst die Tücher und die Kissen drapieren.«
Flaminia steigt vom Podest und wickelt sich in einen weißen, bequemen Umhang, fast eine Römertoga aus AugustusÕ Tagen. »Ich möchte, dass du in meinem Schlafgemach wartest, bis der Klang des Glöckchens dich ruft.«
»Schlafgemach? Ein Glöckchen? Warum das? Vielleicht sollte ich É«
Schnell hüpft sie zu mir und umklammert mich. »Schsch! Vertraue mir. Ich bin mir sicher, ich kenne deine Vorstellungen und Gedanken. Mal sehen, ob es dir gefällt«, sagt sie verführerisch und schiebt mich sanft zur Tür. »Es wird nicht allzu lang dauern, Liebster!«
Ich lege mich rücklings auf das Bett. Es ist warm im Atelier. Meine Gedanken wandern zurück. Sie verfolgen die Entscheidungen zurück bis zu dem denkwürdigen Moment, als ich das Siegel des Briefes aus Madrid brach. Ein Tag eines unerwarteten Entschlusses.
Der Hof wollte, dass ich sofort zurückkehre. Durch eine Eingebung, die ich mir bis heute nicht erklären kann, verzögerte ich den Abschluss meiner Mission in Rom. Es war eine Stimme, die mir riet, zu bleiben und nicht aufzugeben. Wenn ich recht überlege, bin ich zu meinem Glück bei wichtigen Entscheidungen meines Lebens nie Unsicherheit oder Zweifel gefolgt. Es war immer nur diese Stimme in mir.
Vielleicht ist es die Wirkung der Sterne, die in meinen Lebenslauf wiederholt eingegriffen hat. Gottes Werk ist voller ungelöster Geheimnisse, aber der Schöpfer der Welt hat die Bahnen und die Einwirkung der Sterne eingerichtet, und er weiß auch, was er damit für sein Geschöpf Diego Velázquez bewirkt. So wie ich einmal nicht gewusst habe, was Farbe ist, so habe ich nicht gewusst, was Leidenschaft ist, ehe ich Flaminia begegnete. Leidenschaft ist fast zu wenig, denn es drückt nicht das aus, was seitdem meine Seele ergriff. Es ist kein Zufall, wie sich die Wege der beiden Maler Diego und Flaminia begegneten. Ich habe den festen Willen, den Weg, den jene höhere Kraft mir gewiesen hat, weiter zu gehen.
Ich weiß noch nicht das Wie, doch hoffe ich, dass ich Flaminia nicht mehr verliere. Vielleicht kann ich hier Aufträge erhalten oder andere Gründe finden, um wieder nach Rom zu kommen. Ich vertraue darauf, dass ich für Flaminia genügend Zeit, Kraft und Liebe habe, um meinem Leben eine neue Richtung zu geben. Ich spüre, wie mich diese Empfindung in ihren Bann schlägt, zumal die Vorstellung, die Rückkehr nach Madrid antreten zu müssen, immer unerträglicher wird. Am liebsten würde ich dafür kämpfen, für ganz in Rom bleiben zu können, um Rom zu meinem Mittelpunkt zu machen. Doch die Schwierigkeiten, die diesem Wunsch entgegenstehen, sind für mich kaum zu überblicken É
Ich weiß nicht, wie lange ich meinen Gedanken nachhing, da plötzlich reißt mich das Läuten des Glöckchens aus dem Tagtraum. Ich strecke mich, dehne durch Kopf- und Schulterbewegungen die verspannten Muskeln. Die kleine Nebentür zum Atelier ist nur angelehnt. Wie wird die vollkommene Göttin aussehen? In Gedanken und in spielerischem Versuch habe ich Flaminia schon oft als Venus skizziert. Ob im Traum, ob mit Kreide auf Marmor, in verschüttetem Streusand auf dem Tisch oder im weichen Schlick des Tiberufers. Ich habe es getan, damit meine Hand die höchste Geschicklichkeit und Sicherheit gewinnt, die nötig ist, um bereit zu sein für das große Werk.
Ich öffne die Tür - und halte den Atem an.
Die in Gedanken entworfenen Skizzen verbleichen schlagartig angesichts meiner lebendigen, jugendschönen Flaminia.
Wie aus weiß-rosa Alabaster liegt sie geschmeidig in ausgestreckter Lage mit dem Rücken zu mir. Das Ruhelager hat sie raffiniert komponiert. Wie ein lichthell sich abhebender Schwan ruht meine unwiderstehliche Schöne nun auf dem locker hingeworfenen graublauen Tuch, unter dem sich ein weißes Laken ausbreitet. Ihr Oberkörper lagert bequem und halb aufrecht, sodass sie ihren Kopf mit der rechten Hand abstützen kann. Es ist eine kunstvolle Haltung, und doch zugleich entspannt und völlig natürlich. Sie liegt so selbstverständlich wie die venezianischen Venusfiguren.
Ich verrücke meinen Malschemel so lange, bis ich den idealen Blickpunkt habe. Ein Kissen gibt mir die perfekte Sitzhöhe.
Meine Augen bewegen sich jetzt auf der Höhe ihrer Schulter. Nun bin ich ganz Maler, der das Objekt seines Bildes im Blick hat.
»Schiebe bitte den rechten Fuß noch etwas weiter unter der linken Wade hindurch É das linke Bein etwas strecken É«
Meine Venus verändert vorsichtig ihre Positur, sodass ihre schwingenden Linien sich ideal in meine Bildfläche einfügen.
Perfekt. Nur eine Frau, die selbst Künstlerin ist, kann sich so in Szene setzen. Das karminrote Tuch ist an einer beweglichen Schiene befestigt und über Rollen die Wand hochgezogen. Der Saum stößt auf dem Boden auf, sodass sich jeder gewünschte Faltenwurf erzielen lässt. Außerdem strahlt das Tuch die Wärme aus, die ich für den Hintergrund des Bildes brauche.
Die farbliche Abstimmung steigert den perlmuttenen Schimmer der Haut davor und lässt den hellen Körper wie aus sich selbst heraus leuchten. Diese durch Farbklang und Lichtcharakter aufscheinende höhere Wirklichkeit ist es, die ein Kunstwerk über den flüchtigen Augenblick hinaushebt É
Ich gehe auf Zehenspitzen zum Fenster, als könnte ich durch hartes Auftreten alle Empfindungen verjagen. Mit dem Rücken zum Licht betrachte ich das Wunder vor mir. Für einen Moment schließe ich die Augen. Es ist der Moment, in dem ich in mir versinke, in dem ich alles vergesse, mich nur noch darauf einstelle, was meine Hand - Werkzeug der Inspiration - an ersten Rötelstrichen auf die Leinwand bannen wird.
Den Linien, welche die Natur vorgibt, brauche ich nur zu folgen. Eine obere, die ihr anmutiges Profil nachzeichnet, eine anschließende, die vom Hals den Bogen um Flaminias Schulter und ihren Arm nachvollzieht, eine weitere, die, aus ihrer schmalen Taille aufsteigend, zu einem Zirkelschlag um ihre Hüfte ausschwingt. Wie eine leisere zweite Gesangsstimme ziehe ich die weiche Binnenlinie des Rückenwirbels, der Pobacken, der Schenkel. Das Geheimnis dieser inneren Geometrie möchte ich eines Tages entschlüsseln. Es ist eine Weltenformel, ein Sternenbild, das sich als lebendig atmendes Wesen vor mir niedergelassen hat.
Ein entscheidender Moment, der mir alles abverlangt. Es gibt kein langes Suchen. Mit wenigen Strichen schwingen die Linien, aus lockerem Gelenk in lang gezogenen Bögen gezeichnet.
Völlige Stille umfängt uns. Ich ziehe den feinen Rötelstift aus meinem Wams, bewege mich auf die Leinwand zu, setze an und lasse meine Hand fließen.
Mein Blick fliegt unablässig zwischen Leinwand und Flaminia hin und her. Ich markiere die Eckpunkte und vermesse die Proportionen mit dem ausgestreckten Pinselstil. Ich gehe zwei Schritte zurück. »Gut, gut!«, flüstere ich kaum vernehmbar. Aus den abstrakten Linien entwickelt sich schemenhaft das Ideenbild. Der Zusammenhang der organischen Gestalt ist mir auf Anhieb gelungen. Und zugleich hat die schwingende Figur ihrer Silhouette einen eigenen Reiz.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 20.04.2005