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Ich werde von heute an jeden Tag für dich Zeit haben. Bis zum Beginn des September.«
»Das ist ja fast schon ein halbes Leben É«, sage ich und bin benommen vor Freude. Ich schließe die Augen. Illusion und Realität - ich durchlebe beides.
»Macht dich das glücklich?«, höre ich wieder ihre nahe Stimme.
»Unbeschreiblich«, erwidere ich.
Daraufhin richtet sie sich auf und mustert mich von oben bis unten. »Ich würde dich gern skizzieren als Satyr, der sich über eine schlafende Nymphe beugt.«
Ich nehme sie in meine Arme und ziehe sie zu mir herunter. »Ich liebe dich dafür, dass du keine Furcht hast gegenüber all den Zwängen. Gott hat dich so schön gemacht und unsere Wege zusammengeführt. Sag, hast du jemals etwas vermisst in deinem Leben?«
Sanft löst sie sich wieder von mir.
»Weißt du«, sagt sie, »man vermisst nur Dinge, die man hatte. Bis ich dich kennen lernte, hatte ich nicht das Gefühl etwas zu vermissen. Aber du hast in meinem Leben vieles auf den Kopf gestellt. Ich könnte und wollte es nicht mehr umkehren. Wenn ich es jedoch müsste, würde ich jetzt unendlich viel vermissen. Dich! Und noch etwas: Ich glaube, Diego, es gibt auch in deinem Leben gefühlsleere Weiten É
»Ja, das Leben, das wir führen, kann unerfüllt sein. Hoffnungen, mit denen wir es begonnen haben, können sich als Täuschungen herausstellen.«
»Täuschungen hin oder her. Ich empfinde ebenso echte Zuneigung zu meinem Gemahl, nicht anders wie du gegenüber deiner Frau.«
»Wo befindet sich dein Mann jetzt?«
»Auf einer Reise jenseits der Alpen. Ich habe seine Abreise abwarten müssen. Er war dagegen, dass ich dich hier empfange. Wahrscheinlich hat er deine Begeisterung für mich gespürt. Nur deshalb musstest du warten.«
»Oh, wie töricht von mir É Ich Narr!«
»Männer sind töricht! Wusstest du das noch nicht?«
»Nein, bis heute!«
Nach einer Weile frage ich Flaminia: »Und liebt er dich?«
»Er bewundert mich wie einen seltenen bunten Vogel, für den er hier einen goldenen Käfig geschaffen hat.«
»Und was fehlt dir bei ihm?«
»Er weiß nicht, wofür sich ein Malerauge begeistert und was ein Mensch sucht, der zeichnet und malt. Wenn ich einem Schmetterling nachsehe oder eine gemeißelte Figur bestaune, entzückt ihn das wie ein albernes Kinderspiel. Ich habe gelernt, ihm meine Gefühle hierin nicht zu zeigen; er würde sie nicht ernst nehmen.«
»Und was kann ich dir davon geben?«
»Es ist der Strauß von Gefühlen, den du mir heute geschenkt hast und auf den ich sonst verzichten muss. Ich lebe hier oben in diesem Atelier und in meinen Bildern. Aber meine Sehnsüchte bleiben unerfüllt.«
Zärtlich nehme ich Flaminia in meine Arme und küsse sie auf Stirn, Augen, Nase und Kinn. »Ich werde sie dir erfüllen. Jeden Tag und, wenn es mir gelingt, bis in alle Ewigkeit É«
»Du machst große Worte, Diego. Ich glaube eher daran: Was unsere Liebe unzerstörbar macht, ist das Glück, dass wir Seelenverwandte sind. Wenn wir an der Staffelei stehen, sind wir losgelöst, entrückt, sodass wir im Grunde nichts anderes brauchen als genügend Muße und Material zum Malen. Empfindest du es nicht ebenso?«
»Ja, ich kenne das Gefühl. Doch mir steht leider das Handwerk der Malkunst zu oft im Wege.«
»Dir? Im Wege? Wie das?«
»In Madrid und anderswo in Spanien ist man niederen Ranges, wenn man selbst zum Pinsel greift. Hier in Italien ist es anders.«
»Niederer Rang? Wie kann das sein? Du hast doch deinen König porträtiert und seine ganze Familie.«
»Ja, ich bin im Königreich sicher die große Ausnahme. Doch von den meisten hohen Herren im Lande erfahre ich nur Niedertracht«, sage ich verbittert. »Ich habe viele meiner Bilder nicht vollenden können, da ich mich um meine vielfältigen Aufgaben bei Hofe habe kümmern müssen. Mir blieb wenig Zeit für das, was ich im Grunde am liebsten getan hätte. Nur hier in Italien spüre und erlebe ich plötzlich wieder, was in mir steckt.«
»Ich wünsche dir, dass du es wieder fühlen wirst. Denn ohne diesen unerschöpflichen Strom von Farben, Motiven, unablässig sprudelnd wie die Quellen des Tiber, ohne jene kaum bezähmbare Ungeduld, endlich das Werk zu vollenden, verkümmert dein Talent.«
»Ich glaube, ich verstehe den Sinn deiner Worte. Lass uns daher einfach unseren Gefühlen folgen.«
»Dem Leben entgegen?«
»Dem Leben entgegen. Ich liebe dich!«, rufe ich aus und überschütte Flaminia mit zärtlichen Küssen.
Nach einer kleinen Weile fragt sie mich: »Was meinst du? Können Männer besser sehen?«
»Ich verstehe deine Frage nicht, Liebste.«
»Ich frage deshalb, weil ich versucht habe, Frauen zu porträtieren. Ich kenne keine Frau, die den Mut hat, sich so zu sehen wie sie ist. Und wenn es einer Frau gelingt, dann ist sie womöglich abgestoßen von dem, was sie an sich entdeckt.«
»Abgestoßen? Meinst du nicht vielmehr É erschrocken?«
»Nein, regelrecht angewidert. Sieh dir nur Tizian an. Ich weiß nicht, ob es an den Formen liegt - diese geschwollenen Bäuche und Schenkel. Man kann die meisten seiner Figuren nicht ansehen, ohne zu schaudern.«
»Du hast Recht. Hinter den Leinwänden liegen oft die bleichen Skelette der guten Ideen. Ich vermute, er hatte kein richtiges, süßes, nacktes Modell in seinem Atelier vor Augen. Ich kann ihn daher nur bedauern É«, sage ich schmunzelnd und zeichne Flaminias Umrisse in die Luft.
»Sei nicht so frivol, Diego. In Madrid wie in Rom gibt es sicher keine einzige schöne Frau, die bereit wäre, sich vor den gierigen Augen eines Malers nackt auszuziehen. Nur Huren und alte Frauen kannst du haben. Es sind aber wahrlich die schlechtesten Modelle. Das Leben hat sie gezeichnet, und der ständige hässliche Widerstreit in ihrem Leben ist ihnen ins Gesicht gemeißelt.«
»Habe ich ein Glück, so etwas Grässliches nicht betrachten zu müssen. Doch sage mir: Was hast du eigentlich von mir gedacht, als du mich das erste Mal im Palazzo Massimi wahrgenommen hast?«
»Du bist ganz schön neugierig.«
»Bitte, verrate es mir.«
»Na schön, mein eitler Meister Diego É Erst einmal dachte ich mir: Wer ist dieser Diego Velázquez überhaupt, und warum beginnst du dich für ihn auf einmal zu interessieren? Ich betrachtete dich etwas genauer, ohne dass du es gemerkt hast«, sagt sie mit einem vieldeutigen Lächeln und wühlt mit ihrer Hand in meinen Haaren.
»Weiter, weiter, erzähle É«, fordere ich sie auf.
Langsam fährt sie mit ihrem Finger mein Profil entlang. »Zweifelsohne, sagte ich mir, er sieht gut aus. Mindestens einen halben Kopf größer als ich, muskulöse Figur, schwarze, lange Haare und ein wunderbar gebräunter Teint. Aber das allein ist es ganz sicher nicht, was meine Aufmerksamkeit an dir erregte. Dein Wesen strahlte eine gewisse Leichtigkeit aus. Ich glaube, du hast die Dinge um dich herum nicht ganz so ernst genommen. Das was du sagtest, war witzig und charmant - ich mag diese leichte, humorvolle Art.«
»Endlich weiß ich, worauf es dir ankommt É«
»Schsch!!! Ich sah in deine blauen, blitzenden Augen - etwas zu unverfroren, wie du mich damit ansahst. Ich glaube, ich war ein wenig unsicher, blickte zur Seite, doch immer wieder gelang es dir, meine Augen einzufangen. Dennoch: Es gefiel mir und fesselte mich irgendwie. Als wir uns trennten, sah ich vorsichtig zurück und bemerkte in deinen Blicken Neugier, aber auch Bewunderung und Sinnlichkeit. Ab da fing ich an zu träumen É«, sagt sie versonnen.
»Bitte weiter, erzähl weiter.«
»Die Gesellschaft interessierte mich nicht mehr. Ich wollte allein sein und ging zum Fenster - sah hinaus. Mein Blick schweifte über die Dächer der Stadt. Die Sonne schickte die letzten warmen Strahlen des Tages durch das Fenster. Sie fielen auf mein Gesicht und auf meine Schultern. Ich verschränkte die Arme vor meiner Brust und lehnte mich seitlich in das Fenster. Verträumt schloss ich die Augen. Plötzlich sah ich deine Augen, Diego, und es wurde mir heiß É«
»Ich hätte nie geglaubt É«
»Schsch!«, verschließt sie mit ihrem Finger meine Lippen. »É Neben der aufsteigenden Wärme fühlte ich aber auch Unruhe, was mich verwirrte. Mein Herz schlug schneller, und ich fühlte das Blut in mir pulsieren. Ich versuchte es nicht zu unterbinden. Ich ließ es einfach mit mir geschehen É Wie lange ich dort so stehen geblieben bin, weiß ich nicht mehr. Erst als mich jemand ansprach, erwachte ich aus meinen Träumereien. Ich seufzte, öffnete die Augen und dann das Fenster. Ich brauchte Luft. Eine leichte, frische Brise hauchte über mein Gesicht. Ich war wieder erwacht. Doch die Träume blieben nicht lange fern. Irgendwann in der Nacht sah ich deine Augen wieder É«
Ich blicke Flaminia an und umfasse zärtlich ihre Taille.
»Ach, ich spüre schon wieder, an was du denkst«, sagt sie und legt aufreizend ihren Schenkel über meine Füße.
Mit meinen Fingern gleite ich entlang der Halbmondlinie die Hüfte abwärts.
»Das alles war kein Zufall, Liebste.«
»Du meinst, unsere Begegnung war vorausbestimmt?«
»Vielleicht sollte ich dir begegnen. Wer weiß? Vielleicht deswegen, damit ich dich bitte, mir Modell zu liegen, um den aufreizenden Schwung deiner Hüfte, Schenkel und Beine zu verewigen.«
»Nur meine untere Hälfte? Schade!«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 18.04.2005