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Es waren mühselige Tonleitern, die jemand bei angekipptem Fenster endlos wiederholte. Sie hatte die Rückseite des Hauses erreicht, in dem ihr Appartement lag. Sie öffnete die Hoftür und huschte geräuschlos die Treppe empor.
Die Anonymität Mailands hatte gerade begonnen, sie zu beruhigen. Sie war sich die letzten Monate darin geborgen vorgekommen. Jetzt war die Stadt wieder ein gewaltiger, menschenfeindlicher Schlund aus Steinen und Rauch. Doch sie würde alles daran setzen, dass dieser Schlund sie nicht verschlang. Der vergangene Herbst war die glücklichste Zeit ihres Lebens gewesen. Sie war bereit, für ihr Glück zu kämpfen und alles daran zu setzen, dass Angelo auf ihr Schicksal keinen Einfluss mehr nehmen konnte. Wenn er glaubte, sie wie eine Schachfigur benutzen zu können, dann hatte er sich gründlich getäuscht.
»Duncan!«, rief sie aufgeregt schon auf dem Flur. Er stand nackt im Bad und war dabei, sich zu rasieren. Er wischte sich den Schaum von den Lippen. »Duncan! Ich habe gerade Angelo gesehen. Er lässt das Haus observieren!«
Livia schilderte, was sie gerade erlebt hatte, woraufhin Duncan zustimmend wie ein Arzt zur Diagnose einer Kollegin nickte. Anschließend gingen sie alle Beweggründe durch, die sich für eine Observierung anboten. Sie kamen zu dem Schluss, dass es nur darum gehen konnte, ihnen den Velázquez abzujagen.
Was zu tun war, war eindeutig, und so drängte es sich auch Duncan auf: »Wir dürfen das Original keine Sekunde mehr hier in der Wohnung lassen. Wir müssen es sofort und unbemerkt wieder zurück in den Banktresor bringen.«
»Soll ich in der Bank anrufen?«
»Ja, bitte! Tu es gleich.«
Livia vergrub für einen Moment ihr Gesicht in die Hände. Mit einer Intensität, wie sie es noch nie erlebt hatte, sah sie bestimmte Personen sich an ihre Fersen heften, angeführt von dem, der schon immer ein falsches Spiel mit ihr betrieben hatte É
Mailand, 20. März 1965
Es war unkomplizierter gelaufen, als Livia und Duncan es sich gedacht hatten. Zwei Telefonate am gleichen Vormittag hatten ausgereicht, und schon hatten sie im Herzen Mailands eine Bank mit geeigneten Tresorräumen für ihren Schatz gefunden.
Die Holzkiste mit dem Bild hatte Duncan mithilfe des Speditionsfahrers aus Livias Wohnung gehievt. Den Transport hatten sie sicherheitshalber über die Hinterhöfe des Gebäudekomplexes durchgeführt, auf demselben Weg, den Livia nach der Entdeckung des roten Fiats benutzt hatte. Beide waren sich absolut sicher, dass niemand die Aktion von der Via Boticcelli her hatte beobachten können.
Die Formalitäten in der Bank waren alsbald erledigt gewesen. Hinter ihnen hatten sich massive Gittertüren geschlossen. Nun konnten sie tief durchatmen. Das Original lag sicher hinter Stahl und Beton. Unerreichbar! Keine Chance für die Diebe, die sich offenbar Hoffnung darauf gemacht hatten, das Gemälde an sich reißen zu können.
So quetschten sie sich nun wieder auf die vordere Sitzbank des Lieferwagens der Spedition, um sich zurück in die Via Botticelli bringen zu lassen. Sie ließen sich vom Fahrer in der Nebenstraße absetzen, um möglichst unbeobachtet das Gebäude wieder betreten zu können É
Als sie im Torbogen standen, sagte Duncan: »Pass auf! Geh du über den Hof. Ich nehme den vorderen Eingang. Wir treffen uns im Treppenhaus. Ich will nachsehen, ob der Wagen immer noch da ist.« Livia nickte.
Duncan schlenderte die Straße entlang. Ein Blick genügte. Der rote Fiat war verschwunden. Auf seinem Platz parkte jetzt ein anderer Wagen. Niemand saß darin. Auch im weiteren Umkreis war kein verdächtiges Fahrzeug auszumachen. Ebenso keine Person, die herumlungerte. Mit zwiespältigen Gefühlen betrat Duncan das Treppenhaus.
»Der Rote ist weg!«, bemerkte er zu Livia.
»Möchte wissen, wo die sich jetzt herumdrücken«, erwiderte sie. Einen Moment blickte Livia ins Leere, ehe sie unvermittelt und mit klarer Stimme erklärte: »Das ist sicher noch nicht das Ende!«
Vor ihrem Appartement angekommen, entdeckte sie auf dem gefliesten Boden, genau vor der Eingangstür, einen hässlichen schwarzen Fleck. Er rührte von einer ausgetretenen Zigarettenkippe her. »So ein Ferkel!« kam es mit Abscheu über ihre Lippen. Während sie noch in ihrer Tasche nach dem Türschlüssel suchte, sah sie vor ihrem inneren Auge plötzlich den Graugekleideten, wie er seine Zigarette wegwarf und mit dem Absatz ausdrückte. Dieser Kurzfilm traf sie wie ein Blitz. Livia zögerte.
»Was hast du?«, fragte Duncan. Sie deutete auf den Brandfleck und reichte ihm den Schlüssel: »Sperr du bitte aufÉ«
Duncan steckte den Schlüssel in das Schloss. Der Schlüssel ließ sich nicht drehen. Der Schlossriegel schien blockiert zu sein. Verdutzt versuchte er, die Tür fester heranzuziehen.
»Hattest du abgeschlossen?«, fragte er Livia beiläufig, während er an der Tür zog.
Die Antwort blieb Livia im Hals stecken, denn als Duncan den Türknauf losließ, ging die Tür wie von selbst auf. Gleichzeitig fiel etwas scheppernd zu Boden. Es war das Schließblech, das aus der Türzarge herausgefallen war. Holzsplitter auf dem Dielenboden verrieten, dass die Tür gewaltsam geöffnet worden war.
Duncan gewann als Erster seine Fassung wieder: »Verdammt. Es muss gerade erst passiert sein.« Zielstrebig, doch aufmerksam in alle Richtungen spähend, ging er voran. Livia folgte zögerlich. Duncan betrat das Wohnzimmer und stutzte. »Das Bild es weg!«, schrie er. »Mein Bild haben sie mitgenommen!«
Livias Blick fiel auf die leere Staffelei. »Angelo! Wie konnte er es wagen?« Livia war vor Entrüstung außer sich. Schon griff sie sich den Telefonhörer. »Ich rufe die Polizei. Dieser Mistkerl! Das wird er büßen. Ich werde ihn hinter Gitter bringen!«
Die Notrufnummern lagen neben dem Apparat. Mit zitternder Hand betätigte sie die Wählscheibe, als Duncan sanft die Gabel drückte. Livia sah ihn mit großen Augen an. »Nein, mein Engel. Noch nicht«, sagte er im beruhigendem Ton. »Es war doch nur die Kopie. Lass uns erst in Ruhe überlegen. Wenn wir wollen, können wir das Ganze immer noch zur Anzeige bringen.«
»Liebling É«, fing Livia an zu schluchzen. »Deine wunderbare Arbeit, unser herrliches Bild! Das É das können wir uns doch nicht gefallen lassen.«
Duncan setzte sich zu ihr und nahm sie in den Arm. Liebevoll strich er ihr über das Haar. »Wir werden einen Weg finden. Glaub es mir É«
Da klingelte das Telefon. Nun griff Duncan nach dem Hörer. Als er ihn abnahm, hörte er ein Knacken. Der Anrufer hatte wortlos aufgelegt.

Mailand, 21. März 1965

L
ivia und Duncan hatten fast die ganze Nacht hindurch diskutiert. Sie hatten die unterschiedlichsten Theorien über den Diebstahl der Kopie und dessen möglichen Folgen angestellt und die Absichten der Einbrecher einzukreisen versucht.

(wird fortgesetzt)

Artikel vom 07.05.2005