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Eine deutsche Geschichte
von Flucht und Neuanfang

Lars Oermann schreibt Buch über das Leben seines Großvaters

Von Matthias Meyer zur Heyde
Bielefeld (WB). Seinen aus Pommern geflohenen Großvater hat Lars Oermann nicht mehr kennengelernt. Seine Geschichten aber begleiteten ihn durch Kindheit und Jugend. Jetzt hat Oermann (33) sie aufgeschrieben.

»Den Kater hab ich erfunden.« Das gibt Lars Oermann zu. Aber alles andere ist echt, ist Wirklichkeit. Auch dass Hermann Polzin, Oermanns Großvater mütterlicherseits, nachdem er in Schleswig-Holstein »an Land gespült« wurde, zufrieden war, die Deiche einer kleinen Gemeinde inspizieren und reparieren zu dürfen - mit einem Kater als einzigem Freund.
»Ich fand das schon immer höchst erstaunlich: Ringsum erblüht Deutschland im Wirtschaftswunder, und mein Opa stellt Maulwürfen und Wühlmäusen auf einem Deich nach - jahrelang«, sinniert Oermann, der im Schildescher Siedlungsgebiet Sudbrack aufwuchs. »Ich glaube, er war ein Aussteiger, lange bevor der Begriff und das dazugehörige Lebensgefühl erfunden wurden.«
Der Landwirt Hermann Polzin wuchs in dem hinterpommerschen Dorf Burzlaff-Abbau (im Großraum Neustettin) auf, in einem abgelegenen Viertel, das Buschkoppi genannt wurde. An einem Einsatz als Kavallerist im Ersten Weltkrieg schrammte er wegen eines Reitunfalls knapp vorbei. 1945 jedoch kam es knüppeldicke: Als die Flucht gewagt werden sollte, waren schon die Sowjets da und mit ihnen kamen Misshandlung, Vergewaltigung und Mord.
»1946 erreichte mein Großvater, völlig mittellos, Schleswig-Holstein, aber wenn er gehofft haben sollte, dort freundlich aufgenommen zu werden, so sah er sich getäuscht.« Im Westen, wo nach den Bombenangriffen Wohnraum knapp war, mochte man die Flüchtlinge nicht willkommen heißen. Nicht selten wurde sogar das eigene Heim mutwillig in einen Sanierungsfall verwandelt, um nur ja keine Fremden aufnehmen zu müssen.
»Auf das Flüchtlingselend sind wir Deutschen eigentlich erst durch die Balkankriege aufmerksam geworden«, sagt Oermann. »Hierzulande wurde das Thema ausgeblendet - finanziell durch den Lastenausgleich und politisch in ideologisch aufgeheizten Disputen.« Die ersten Jahre nach dem Krieg verdämmerten in den Nebeln der Vergangenheit, und kein Verlag wollte Oermanns Buch drucken.
Denn die Recherchen für »Maikäfer flieg« hatte der Berufsschullehrer, der jetzt in Darmstadt lebt und momentan in Berlin arbeitet, bereits Anfang der 90er getätigt. »Ich bin auch nach Pommern gereist und habe dort alles so vorgefunden, wie ältere Familienmitglieder es mir beschrieben hatten«, erzählt Oermann. Die seinerzeit einzigartige Rübensähmaschine, die Polzin erfand, steht nach wie vor auf dem Hof. Der deutsche Spruch »Ohn' Fleiß kein Preis« ziert immer noch die Kacheln in der Küche. Wohnhaus, Scheune, Gerätschaften: alles noch da.
Zwar rückten Flucht und Vertreibung jüngst stärker ins Blickfeld, aber Oermann blieb das Thema stets zu vage - ihm fehlte die Verdichtung in der Individualität. »Auch deswegen habe ich mich gezielt um die Lebensgeschichte meines Großvaters gekümmert und alles aufgeschrieben.«
Ortsnamen hat Oermann bewusst weggelassen, denn »ich erzähle deutsche Geschichte, nur eben anhand eines Einzelschicksals. Mein Opa war Augenzeuge so vieler signifikanter Einzelereignisse, hat diverse politische Systeme erlebt und überlebt - wie wenig steht davon in den Geschichtsbüchern!« Vielleicht hatte Hermann Polzin nach zwei Kriegen, nach drei politischen Systemen, nach Hunger, Inflation, Börsenkrach und Menschenhatz einfach keine Lust mehr, noch einmal neu anzufangen - lieber blickte er über den Deich auf die unendliche See hinaus.
Gut 350 Exemplare hat Lars Oermann verkauft, seit sein Buch vor ein paar Wochen nun doch erscheinen konnte: auf Anfrage (Books on Demand). »ÝMaikäfer fliegÜ könnte ich mir gut als Schullektüre vorstellen«, sagt der Autor. Das wäre der unaufgeregten, nachdenklichen Erzählung wirklich zu wünschen.
Lars Oermann: Maikäfer flieg; Books on Demand, 168 Seiten, 10,90 Euro. Das Buch lässt sich über amazon.de und libri.de im Internet bestellen am einfachsten über
www.lars-oermann.de.

Artikel vom 09.04.2005