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Wildes Schütteln
stellt »Baby«
Paul nicht ab

Angehende Eltern lernen an Puppen

Von Sabine Schulze (Text)
und Bernhard Pierel (Fotos)
Bielefeld (WB). Paul ist untröstlich: Er möchte sein Fläschchen haben. Und er wird nicht eher aufhören, danach zu weinen, bis jemand kommt, um ihn zu versorgen. Dabei ist Paul nur eine Puppe. Aber eben eine Puppe, die nicht nur aussieht wie ein Säugling, sondern sich in seinen »Lebensäußerungen« auch so verhält. Ein Chip macht es möglich.

Paul ist eine von vier Baby-Puppen, die gezielt zur Schulung von Babysittern, werdenden Eltern und werdenden Großeltern eingesetzt werden. »Mit Paul, Luca und den anderen können sie erfahren, was es heißt, rund um die Uhr einen Säugling zu versorgen, und welche Verantwortung auf sie zukommt«, erklärt Jutta Bleckmann, Kinderkrankenschwester, Pflegefachberaterin, Dozentin und Gründerin des jungen »Schulungszentrums Innovative Gesundheitsförderung« (SIG) an der Zimmerstraße.
Zu ihren Angeboten gehört das Programm »RealCare«, das aus den USA kommt. »Dort wird es vor allem bei Eltern eingesetzt, die ihre Kinder immer wieder mit Spuren von Misshandlungen in die Klinik bringen«, erklärt Bleckmann. Sie setzt lieber auf Prävention - und möchte eben im Vorfeld auf mögliche Belastungen hinweisen, aber auch auf Strategien, damit umzugehen.
Wie auch immer angehende Babysitter oder Eltern »Baby Paul« in den drei Tagen, in denen es leihweise bei ihnen daheim ist, behandeln: Jutta Bleckmann wird es erfahren. Denn ein Chip in Paul verrät genau, wie lange er schreien musste, bis er das Fläschchen bekam, bis die Windel gewechselt wurde oder er einfach liebkost und geherzt wurde. Zudem bekommen seine »Pfleger« zwei elektronische Armbänder mit auf den Weg - so wird auch erfasst, wer sich wann um ihn gekümmert hat.
»Wenn Paul wieder bei uns abgegeben wird, kann ich einen Computerausdruck erstellen und genau sehen, was wann getan, angetan oder unterlassen wurde«, erklärt Jutta Bleckmann. Wie er sich bei seinen Eltern auf Zeit gebärdet, hat sie im übrigen auch in der Hand: Sie kann Paul so programmieren, dass er ein pflegeleichtes Paulchen ist, oder so, dass er sich mal launisch und mal friedfertig verhält - oder so, dass er nöckelt und nörgelt, schreit und quengelt und an vier Stunden ungestörten Schlaf nicht zu denken ist. Das reibt auf. »Und das ist dann schon Hardcore und wird nur gemacht bei Leuten, die ihre Kinder immer wieder schütteln.«
Denn das ist für Babys eine enorme Gefahr: »Dabei wirken Kräfte auf den Nacken wie bei einem Unfall mit 50, 60 Stundenkilometern.« Im Extremfall hat das Schütteltrauma tödliche Folgen. Und oft sagen dann die, die die Nerven verloren haben, dass das Kind einfach nicht aufhören wollte zu schreien. »Es gibt eben ausgesprochene Schreikinder. Und auch Paul kann so programmiert werden. Nur: Mit Schütteln ist er nicht abzustellen.« Die Fachfrau, die von ihren eigenen Kindern weiß, wovon sie spricht, empfiehlt in dieser Situation: »Sich vergewissern, dass dem Kind nichts fehlt. Das Zimmer verlassen, Türen schließen. Vielleicht auf dem Balkon eine Tasse Kaffee trinken.« All dies, betont sie, bringe ein Kind nicht um. Und zuweilen könne es durchaus richtig sein, ein Kind schreien zu lassen.
Mit Paul, sagt sie, könnten angehende Eltern ihre Belastungsgrenzen erfahren - und wie sie damit umgehen können. »Üblicherweise enden Geburtsvorbereitungskurse bei der Geburt und beim Stillen. Mit dem, was dann kommt, muss man alleine fertig werden«, sagt ihre Mitarbeiterin Gabi Tezer. Dabei kann auch dann noch Hilfe vonnöten sein.
Für Präventionskurse in Schulen hält Jutta Bleckmann noch zwei andere Säuglingspuppen parat. Die sind kleiner und verhalten sich anders. Denn an ihnen wird deutlich, wie die Babys von drogen- oder alkoholabhängigen Müttern sind. »Unser kleiner Junkie schreit anders und zittert - selbst, wenn er nicht weint. Das hört bei diesen Babys erst auf, wenn sie entzogen sind. Aber der Schaden ist längst da!«, warnt die SIG-Chefin.

Artikel vom 12.05.2005