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»Huhn her oder Kopf ab!«

Heftiger Widerstand im Osten Bielefelds - Bevölkerung in Angst

Bielefeld (WB). »Als ich 1950 meinen neugeborenen Sohn in den Armen hielt, habe ich ihm geschworen: Soldat wirst DU nicht!« Anneliese Vormbrock (79) aus Hillegossen hat - nicht erst seit sie Augenzeugin der schweren Kämpfe im Osten Bielefelds wurde - für immer genug vom Krieg.

Die Familie war sozialdemokratisch, also hitlerfeindlich, orientiert und steckte den Frontverlauf mit Nadeln und Wollfäden auf einer Landkarte ab. Und merkte: Es sah nicht gut aus.
Der Ubbedisser Hauptlehrer Rudolf Weithöner glaubt, so kritisch seien alle gewesen: »Schon lange vor unserer völligen Niederlage wußte das Volk, daß der Sieg nicht mehr zu erringen war. Das wurde ganz augenscheinlich, als der Luftangriff auf die Städte uns näherrückte«, schrieb er nach dem Krieg, als der Berufsoffizier a.D. Friedrich Karl Kühlwein Stimmen von Zeitzeugen sammelte.
Am Ostersonntag, gegen 22 Uhr, ging die 19-jährige Anneliese Vormbrock, geb. Niebuhr, mit ihrer Oma (auf dem Hof der Großeltern am Ballerbrink war sie als »Dienstmädchen« beschäftigt) in den Stall, um das Vieh zu versorgen - da flog ihr der Melkschemel aus der Hand. »Erst später erfuhr ich: Die Verteidiger hatten die Autobahnbrücke bei Lämershagen, beim Gasthaus Deppe, gesprengt.«
Was sie zu sehen (und zu hören) bekam, waren die Auswirkungen des heftigen Widerstands, der den Vormarsch der Amerikaner aber auch nur einen Tag lang aufhalten konnte. Trotzdem: Innerhalb weniger Minuten war das Haus mit deutschen Uniformierten voll belegt. »Sie sollten das Gelände entlang der Autobahn sichern, waren aber auffallend schweigsam - und hungrig. Eine Suppe aus Milch und Mehl, dazu unser letztes Brot, aßen sie komplett auf.«
Die Stimmung in der Truppe war auf dem Nullpunkt. Als Anneliese Vormbrock fragte, ob sie wohl der Anordnung des Dorfpolizisten Ostertag Folge leisten und den im Haus beschäftigten kriegsgefangenen Franzosen zum Hillegosser Bahnhof bringen müsse, erwiderte ein Landser: »Um Himmels Willen - nein! Was den Leuten jetzt noch angetan wird, zahlt man uns später heim. Verstecken Sie den Mann hier!«
Im Morgengrauen sah Anneliese Vormbrock, die des nachts das in jedem Haushalt obligate Exemplar von »Mein Kampf« verbrannt hatte, ein rotes Leuchten im Osten: Oerlinghausen brannte. Hier tobte ein verlustreicher Häuserkampf. Trupps rückten vor und zogen sich zurück, die Zivilbevölkerung legte Sonntagskleidung an, um wenigstens die zu retten, falls das eigene Heim niederbrennen sollte. Eine berechtigte Sorge: »Oberhalb unseres Hauses wurden zwei Maschinengewehre aufgestellt.«
Merkwürdig, dass Anneliese Vormbrock in jenen Stunden die Geschichten ihres Großvaters einfielen, der einst bei den Lippischen Schützen gedient hatte. »Die hörten sich lustig und abenteuerlich an. Was aber jetzt um uns herum passierte, war kein Abenteuer mehr, sondern echter Krieg.«
Den erlebte auch Gisela Brömmelsiek, geb. Karaskiewicz, aus nächster Nähe. Sie war mit zwei Geschwistern und der Mutter beim Bauern Klostermann evakuiert, dessen Hof im Tal nahe der Gaststätte Deppe lag - genau dort, wo die Amerikaner den Übergang über den Teutoburger Wald erzwangen.
»Mutti, da kommen lauter Soldaten!«, rief die Zehnjährige. »Das waren die GIs, und die schickten uns erstmal in den Keller.« Soviel aber bekam das Mädchen doch mit: »Auf der Deele stand ein Panzer, auf einem Leiterwagen lagen lauter Leichen.« Und in der »Runkelkuhle«, einem Mittelding zwischen Stall und Erdloch, wurden die gefangenen deutschen Soldaten eingepfercht.
Einen GI gelüstete es nach Huhn, das ihm der Bauer aber nicht geben wollte: »Da hieß es: Huhn her oder Kopf ab!« Die Amis »haben da schlimm gehaust. Als ich meine Puppe, die ÝDicke IngeÜ aus dem Kinderzimmer holen wollte, lagen die GIs in den Betten, auf dem Boden lauter Scherben. Es dauerte eine Weile, bis ich merkte: Sie hatten alle Christbaumkugeln zertreten.«
In der Nacht zum 3. April wurde die Lage in Ubbedissen und Hillegossen recht unübersichtlich. Überall Scharmützel. Ein paar Stunden lang lag das Haus von Anneliese Vormbrocks Großeltern offenbar im Niemandsland zwischen den Fronten. Die Angst war längst zum ständigen Begleiter der Menschen geworden, denen allenthalben die Kugeln um die Ohren pfiffen.
Am Mittwoch, 4. April 1945, endlich konnten die im Haus befindlichen Wehrmachtsoldaten dazu überredet werden, sich zu ergeben. Anneliese Vormbrock, die - zu Recht -Ê hoffte, dass man auf sie als Frau nicht schießen würde, lief mit einem weißen Taschentuch los - einem GI direkt in die Arme. Stottern. Radebrechen. Was heißt »Waffen« auf englisch? Da grinste der Amerikaner und sagte in reinem Hochdeutsch: »Jetzt erzählen Sie mir alles noch mal auf deutsch, damit ich es verstehen kann.«
Überflüssig zu betonen, dass die Sache für die Verlierer diesmal glimpflich ausging.
Nun galt es die nächsten Tage zu überstehen. Und zwar unter den Augen der Sieger - auf Anordnung der Militärregierung: »Diese Redewendung wurde ebenso geläufig wie das frühere Ýauf Befehl des FührersÜ«, schrieb Lehrer Weithöner süffisant.
Am Dienstag lesen Sie: Plünderung und Vergewaltigung - die Bevölkerung lebt weiter in Angst.

Artikel vom 07.04.2005