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Mädchen »wacht auf«

Anna Maria Mühe steigt im »Delphinsommer« aus

ARD, 20.15 Uhr: Die Neue in der Klasse ist eigentlich ganz nett, nur etwas seltsam. Sie trägt altmodische Klamotten, sie weigert sich, moderne Literatur zu lesen, mit den anderen ins Kino zu gehen und am Sportunterricht teilzunehmen.

Des Rätsels Lösung: die Eltern, Mutter und Stiefvater, gehören der »Kirche Christi« an, einer strenggläubigen leib- und weltfeindlichen Sekte. Heile Welt auf den ersten Blick, ein Dauer-Gefängnis auf den zweiten.
So harmlos wie der Titel »Delphinsommer« läuft zunächst der Film an: Das Mädchen Nathalie wirkt behütet, gegen alles Böse abgeschirmt, wofür schon die Eltern sorgen. Das Dilemma, vom Leben ausgeschlossen, gegen alle anderen abgeschottet zu sein, teilt sich Nathalie allmählich mit. Und sie probt zaghaft den Aufstand.
Prompt zeigt die Sekte ihr anderes Gesicht. Und der Selbstmord einer Freundin lässt sie vollends wach werden. Ihr Kampf um ihre Selbstbestimmung beginnt. Ein Film mit intoleranter Tendenz, zumal nicht alle Sekten so sind wie die hier gezeigte? Autorin Regine Bielefeld, zum Stoff durch eine Zeitungsnotiz angeregt, sagt: »Religionsfreiheit ist auch die Freiheit, sich von einer Religion zu distanzieren. Sekten zeichnet es aus, ihren Mitgliedern genau diese Freiheit nicht zuzugestehen.«
Erwachsene mögen dabei noch ihre Entscheidung selber treffen. Wie aber steht es um Kinder, die in einer solchen Umgebung aufwachsen? Wie eben das Mädchen Nathalie, die seit ihrem zweiten Lebensjahr nichts anderes gekannt hat. Für Regisseur Jobst Christian Oetzmann, der in Nieheim im Kreis Höxter ausgewachsen ist, war es besonders reizvoll, den Film ganz aus der Perspektive der erwachenden Nathalie zu drehen.
Anna Maria Mühe, Tochter des Schauspielers Ulrich Mühe, selber erst 19 Jahre alt, spielt sie. Zuvor war sie in »Was nützt Liebe in Gedanken« als wilde Göre der Roaring Twenties zu sehen gewesen. Hier muss sie brav, angepasst und zunächst überwiegend passiv wirken, doch: »Die Rolle stimmt in sich, von Anfang bis Ende.«
Sie selbst würde nie einer Sekte beitreten (»Ich bin nicht einmal getauft«), aber sie versteht die Anziehungskraft auf Jugendliche, die in Problemen stecken: »Sektierer geben sich ja nicht gleich brutal, sondern anfangs liebevoll besorgt. Sie päppeln ihre Schützlinge erst mal richtig auf, um sie dann umso sicherer in den Griff zu bekommen.«

Artikel vom 06.04.2005