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Die Schulzeit schon vorbei
Der achtjährige Mostafa muss dem Vater auf dem Reisfeld zur Seite stehen
Auf dem großen Platz vor der Schule stehen die Jungen und Mädchen in Reih und Glied -Êfast wie die Soldaten auf dem Kasernenhof. Die Lehrerinnen und Lehrer kontrollieren, ob die Kleidung ordentlich sitzt.
Der Rektor hält, wie jeden Tag, eine kurze Rede. Er mahnt zur Aufmerksamkeit, spricht von Pflicht und Verantwortung. Dann verkündet er das Losungswort des Tages, ehe die Klassen, ordentlich in Zweierreihen, nacheinander ihr Schulzimmer aufsuchen.
Mostafa fehlt heute beim Appell. Auch gestern und vorgestern war er nicht dabei. Er ist erst acht, aber seine Schulzeit ist möglicherweise schon vorbei. Sein Vater hat ihn zur Seite genommen und ihm gesagt, dass er unmöglich noch länger bei der harten Feldarbeit auf seinen Sohn verzichten kann. Mostafa muss seinem Vater, der selbst niemals eine Schule besucht hat, gehorchen. Immerhin durfte er fast zweieinhalb Jahre die Schule besuchen, kann nun ein bisschen lesen und schreiben. Seine Schwester Sultana wird dieses Glück niemals haben.
Mostafa lebt in Bangladesch, irgendwo in einem kleinen Dorf auf dem flachen Land. Er ging gern zur Schule - nicht wegen der Uniform, obwohl auch diese ihm gefallen hat. Doch Mostafa träumte davon, einmal einen anderen Beruf ergreifen zu können als sein Vater und dessen Vater und alle männlichen Vorfahren in der Familie. Vielleicht als Schreiber in der Verwaltung irgendeiner Stadt oder bei einem Gericht. Mostafa kennt einen, der dies geschafft hat - einen Bauernsohn wie er und aus dem gleichen Dorf. Doch dieser Junge hatte zwei Brüder, und Mostafa hat »nur« zwei Schwestern. Die Mädchen werden irgendwann heiraten und das Haus verlassen. Die Jungen aber bleiben und sorgen im Alter für die Eltern. Ein allgemeines Rentensystem wie in Deutschland gibt es in Bangladesch nicht.
Mostafa weiß, dass er keine andere Wahl hat. Er ist ein bisschen traurig, als er sich bückt, um das Wasser aus dem Bewässerungskanal so zu lenken, dass alle Reispflanzen auf dem Acker benetzt werden. Die Träne in seinem Gesicht wischt er schnell weg. Sein Vater soll nicht sehen, dass er traurig ist.
Wie Mostafa geht es vielen Jungen. Einige wie etwa die armen Kinder auf dem Müllplatz gehen überhaupt nie zur Schule. Und wenn Mostafa daran denkt, wie hart die Kinder in den Steinbrüchen und Ziegeleien arbeiten müssen, ist er fast schon wieder froh, der Sohn eines Bauern zu sein. Doch eines nimmt er sich fest vor: Seine Kinder wird er niemals vorzeitig von der Schule nehmen. Bernhard Hertlein

Artikel vom 16.04.2005