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»Unterricht« in Ruinen:
Schüler decken Dächer

Auf dem Stundenplan: Ideologie und Trümmer räumen

Bielefeld (WB). »Der Krieg bedeutete für uns Kinder vor allem eines: ständig schulfrei!« So wie Sennes Ortsheimatpfleger Hans Schumacher haben wohl viele Jugendliche die Sache betrachtet. Günter Tiemann aus Jöllenbeck blickt mit uns in den Schulalltag jener chaotischen Zeit.

Tiemann (Jahrgang '31), von 1973 bis 1989 Bezirksvorsteher in Jöllenbeck, begann seine schulische Laufbahn 1936 in der damaligen Kinderschule der ev. Kirchengemeinde Jöllenbeck an der Eickumer Straße - im Gebäude des Waisen- und Pflegehauses, das vor gut einem Jahr abgerissen wurde. »Eine Diakonisse, die wir ÝTante AugusteÜ nannten, besorgte mit viel Liebe unsere erste Erziehung außerhalb des Elternhauses.«
Bis zum Ausbruch des Krieges - Tiemann besuchte inzwischen die achtklassige Volksschule Jöllenbeck-Dorf - »lief alles in geordneten Bahnen, doch danach wurde es unruhiger.« Lehrer wurden eingezogen, und die politische Einstellung der Pädagogen zeigte die gesamte Bandbreite: »Den Lehrerinnen genügte ein ÝGuten MorgenÜ, andere wünschten ein Morgengebet, einer verlangte das ÝHeil HitlerÜ mit gestrecktem Arm.«
Der Krieg spielte bis ins Klassenzimmer hinein, denn Tiemann erinnert sich an viele Stunden, die er und seine Klassenkameraden mit »Erörterungen« des Wehrmachtsberichtes verbrachten, an Zeitungslektüre voller Sondermeldungen und militärischer Erfolge. »Auch als sich die Wende des Krieges anbahnte, wurde vieles schöngeredet.«
Bald dröhnten die die alliierten Luftflotten durch den Himmel über Deutschland und überall fielen die Bomben. Wegen des ständigen Luftalarms war ab 1943 an geregelten Unterricht nicht mehr zu denken - der Tag hatte meist (wenn überhaupt) nur zwei Schulstunden, und als 1944 die beiden Außenschulen (Heidsiekerheide und Örkenschule) mangels Lehrern schlossen, waren die Klassen in Jöllenbeck-Dorf hoffnungslos überfüllt.
Statt Mathe, Deutsch und Heimatkunde zog man die Halbwüchsigen zur Trümmerbeseitigung heran. Tiemann erinnert sich besonders an einen Tag im November 1944, als eine Luftmine zwei Häuser in der Steinbachstraße beschädigt hatte: die Dächer abgedeckt, die Fensterscheiben herausgeflogen, sogar die Innentüren zerstört.
»Lene, heu hett es ümmer sächt, wui kruigt olle sonnige und luftige Wuhrnungen!«, rief eine Nachbarin der anderen von Balkon zu Balkon zu. Stimmt: »heu«, also Hitler, hatte einst dem Volk modernen Wohnraum zugesagt, doch an jenes Versprechen in dieser Situation zu erinnern, konnte den Kopf kosten. Tiemann weiß noch, dass einige Braunhemden vor Ort patrouillierten, die den Spruch gehört haben müssen. Niemand jedoch unternahm etwas - ein klarer Hinweis darauf, dass Nazi nicht gleich Nazi war.
Zwei Tage dauerte es, bis die Schüler unter fachmännischer Anleitung die Dächer wieder gedeckt hatten. Unter solchen Bedingungen kann von regulärer Schulbildung kaum gesprochen werden; im September, als die Sieger glaubten die Lehrerkollegien entnazifiziert zu haben, besuchten in ganz Deutschland Kinder völlig verschiedenen Alters dieselbe Jahrgangsstufe.
Doch noch war es nicht soweit; zuerst galt es die letzten Kämpfe zu überstehen. »Der Geschützdonner war schon zu hören, da glaubten einige der verantwortlichen Leute in Jöllenbeck immer noch an den großen Endsieg«, berichtet Tiemann. Bekanntlich blieben die Wunderwaffen dort, wo sie immer gewesen waren: im Reich der Phantasie.
Harte Realität dagegen waren die Aufbaujahre, zu denen auch die Jugend ihr Teil beitrug. Günter Tiemann, der die ersten Hungermonate bei einem Bauern in Westerenger überstand, begann im September 1945 eine Monteurs- und Klempnerlehre bei Wilhelm Hunger. »Von 90 Pfennig Stundenlohn habe ich in der Anfangszeit auch meine Mutter unterstützt.« 48-Stunden-Woche, real 55 Wochenstunden (mindestens), 30 Mark netto in der Woche.
Andere machten es sich einfacher. Dass sich Jöllenbecks Amtmann Oskar Flors, ein »150-Prozentiger«, nach der Umerziehung in den »sonnigen Süden« verabschiedete, haben wir schon erwähnt.
Die Mehrheit packte mit an. Dass sich in Jöllenbeck viele »gute Leute« (Tiemann) für den demokratischen Aufbau zur Verfügung stellten, freut Tiemann noch heute.
Was den gläubigen Christen aber sehr störte, ist das Bild, das sich ihm beim ersten Nachkriegsbesuch in der Kirche bot: »Da saßen all die Scharfmacher aus der Nazizeit in den vordersten Bänken und taten, als sei nie etwas gewesen.«
Am Donnerstag lesen Sie: Heftige Kämpfe östlich von Bielefeld - Zeitzeugen erinnern sich.

Artikel vom 05.04.2005