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Frank B. - seit 667 Tagen im Wachkoma

Familienvater verunglückt - Magensonde lässt ihn weiterleben -ĂŠEhefrau umsorgt ihren Mann

Von Christian Althoff
Bielefeld (WB). An Tagen, an denen Florian (13) und Natascha (17) ihren Vater besonders vermissen, setzen sie sich vor den Fernseher und sehen sich Urlaubsvideos an. »So können sie wenigstens seine Stimme hören«, sagt Monika Buchert (39). Ihr Mann liegt seit 667 Tagen im Wachkoma, und sein Zustand wird sich voraussichtlich nie mehr ändern.
Regelmäßig staubt Florian die vielen Modellautos und Motorräder ab, die sein Vater gebaut und in einer Vitrine gesammelt hatte. »Papa war sehr stolz darauf«, sagt der 13-Jährige Schüler.Monika Buchert mit ihrem Sohn Florian: Sie zeigt ihren Betreuerausweis.
Das Pflegeheim Elim in Bielefeld-Sennestadt. 15 Menschen leben hier auf der Wachkomastation, der jüngste ist gerade 18 Jahre alt - ein Opfer eines Verkehrsunfalls. In Zimmer 57 wohnt Frank Buchert aus Augustdorf. Seine Tochter hat Fotos von Indianern und amerikanischen Trucks an die Wände gehängt, in einem Ständer stapeln sich CDs mit Country-Musik. »Das war Franks Welt«, sagt seine Frau, bevor sie ihren Mann mit einem Kuss auf die Wange begrüßt. Pfleger haben den hilflosen Patienten in einen Rollstuhl gesetzt, damit Monika Buchert mit ihm in den Garten fahren kann. Frank Bucherts Blick ist starr, seine Arme sind spastisch verdreht, und aus seinem Mund dringen gutturale Laute. Monika Buchert lächelt ihren Mann an. Sie nennt ihn Häschen, drückt seine rechte Hand und streichelt ihm über die Brust. »Es hat lange gedauert, bis ich ihn nach dem Unfall wieder berühren konnte«, erinnert sie sich. »Das ist mir erst sehr schwer gefallen.«
Es war der 4. Juni 2003, als sich Monika Buchert zum letzten Mal mit ihrem Mann unterhalten hat. »Wir saßen beim Mittagessen. Frank hatte mit unserer Tochter geschimpft, weil sie nicht pünktlich erschienen war. Es belastet Natascha bis heute, dass sie mit ihrem Vater keinen Frieden mehr schließen konnte«, erzählt die Mutter. An jenem Tag war Frank Buchert um 14 Uhr mit seinem Motorroller zur Spätschicht ins Schüco-Werk nach Leopoldshöhe gefahren, wo er in der Isolierglasherstellung beschäftigt war. Als der Familienvater um 23.30 Uhr zurück nach Hause fuhr, sprang ein Reh gegen den Roller. Frank Buchert geriet ins Schlingern, stürzte und prallte mit dem Kopf gegen die Stoßstange eines entgegenkommenden Autos. Mit schwersten Hirnverletzungen wurde er damals in die Spezialklinik Gilead nach Bielefeld gebracht.
»Als mir die Ärzte sagten, mein Mann liege im Wachkoma, habe ich mir erst einmal Bücher besorgt«, erzählt Monika Buchert. Sie erfuhr, dass diese Patienten trotz ihres Wachzustandes weitgehend ohne Bewusstsein sind, aber auf Außenreize regieren. Besonders beeindruckt habe sie die Schilderung einer Amerikanerin, die aus einem Wachkoma wieder zu sich gekommen war: »Sie schrieb, dass die Pfleger sehr grob mit ihr umgegangen waren und konnte sich an vieles erinnern, was in ihrem Krankenzimmer gesprochen worden war.« Obwohl die Ärzte davon ausgehen, dass sich Frank Bucherts Zustand nie entscheidend ändern wird, glaubt seine Frau, dass er, ähnlich wie die amerikanische Buchautorin, die Welt um sich herum wahrnimmt. »Wenn wir Papa besuchen, freut er sich«, erzählt Florian. »Dann reißt er seine Augen auf, und sein Atem wird schneller.« Auch Monika Buchert hat mehrfach Reaktionen festgestellt: »Wenn Frank etwas nicht passt, entzieht er mir seine rechte Hand, die er noch ein wenig bewegen kann. Ich bin sicher, dass er uns erkennt. Deshalb habe ich manchmal ein schlechtes Gewissen, wenn ich im Fernsehen sehe, dass andere Menschen ihre Angehörigen zu Hause pflegen«, sagt die 39-Jährige. Auch wenn Ärzte ihr versichert haben, dass sie damit überfordert wäre. Seit dem Unfall ist Frank Buchert gelähmt und weitgehend blind. Er trägt Windeln und wird über eine Sonde ernährt, durch die ihm dreimal täglich Tee, Wasser und eine Nährflüssigkeit in den Magen geflößt werden. Nachts muss der 80 Kilogramm schwere Mann alle zwei Stunden in seinem Gitterbett umgedreht werden, damit er sich nicht wundliegt. »Frank ist wie ein Kleinkind - mit dem Unterschied, dass er nichts lernen kann«, sagt seine Frau. Die 167 Euro, die der Pflegeplatz täglich kostet, bezahlt die Berufsgenossenschaft, weil der Unfall auf dem Heimweg von der Arbeit passiert war.
Als die Welt der Bucherts noch in Ordnung war, haben die Eheleute nie darüber gesprochen, was sie in einem Fall wie diesem voneinander erwarten. »Ich kann deshalb auch schlecht einschätzen, was Frank will«, sagt seine Frau, die vom Amtsgericht Bielefeld als Betreuerin eingesetzt worden ist und alle Entscheidungen über Heilmaßnahmen, Medikamente und Verlegungen für ihren Mann treffen muss. »Ich weiß nicht, wie viel Bewusstsein Frank noch hat, aber ich habe schon das Gefühl, dass er darunter leidet, sich nicht äußern zu können«, erzählt die 39-Jährige. Dennoch käme sie nie auf die Idee, die Magensonde entfernen und ihren Mann sterben zu lassen, sagt sie mit Blick auf die amerikanische Wachkomapatientin Terri Schiavo (41). Die war am Donnerstag gestorben, nachdem ihr Ehemann gerichtlich die Entfernung der Sonde durchgesetzt hatte, um seiner Frau weiteres Leiden zu ersparen, wie er erklärte.
Dreimal in der Woche besucht Monika Buchert ihren Mann. Manchmal kämen auch die Kinder mit, die sich dann rührend um ihren Vater kümmerten, erzählt die Frau. »Es ist schwer für sie zu sehen, dass sich sein Zustand nicht verbessert.« Sie selbst, sagt sie, sei durch die Herausforderungen der vergangenen zwei Jahre sehr stark geworden. »Nach dem Unfall dachte ich, die Welt bricht über mir zusammen. Ich hatte die beiden völlig aufgelösten Kinder, einen schwerkranken Mann und noch nicht einmal einen Führerschein. Eine Nachbarin hat mich damals von Augustdorf nach Bielefeld gefahren, damit ich Frank in der Klinik besuchen konnte.«
Inzwischen hat Monika Buchert alle Herausforderungen im Griff. »Ich behalte die Ruhe und löse ein Problem nach dem anderen«, sagt sie. Ihre Aufgabe sieht sie darin, ihrem Mann das Leben so schön wie möglich zu machen. »Schließlich haben wir uns vor 19 Jahren versprochen, in guten wie in schlechten Zeiten füreinander da zu sein.« Ihre Sorgen teilt die 39-Jährige seit sechs Monaten mit einem neuen Lebensgefährten. »Ich habe mich lange sehr schwer damit getan, eine neue Beziehung einzugehen. Aber sie gibt mir die Kraft, die ich für Frank brauche.«

Artikel vom 02.04.2005