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Ein Schatten
tritt ins Licht

Grass illustriert Andersens Märchen

Die Welt des Hans-Christian Andersen - sie rückt in diesen Tagen neu ins Blickfeld, wenn in Dänemark, aber eigentlich überall in der Welt, der 200. Geburtstag des großen Schriftstellers gefeiert wird.
Porträt von Andersen aus dem Jahr 1841.Foto: dpa

Dem am 2. April 1805 in Odense als Sohn eines Schuhmachers geborenen Schöpfers solch unvergesslicher Geschichten wie »Der fliegende Koffer«, »Däumelinchen« oder »Der standhafte Zinnsoldat« hat Günter Grass, der bekanntlich auch Graphiker ist, mit einem vorzüglich ausgestatteten, großformatigen Band »Der Schatten - Hans Christian Andersens Märchen - gesehen von Günther Grass« seine Reverenz erwiesen. Der Band enthält 30 »Abenteuer« - »eventyr« - wie im Dänischen Märchen genannt werden. Viele von ihnen sind so sehr Allgemeingut, dass ihre Titel - wie »Die Prinzessin auf der Erbse«, »Des Kaisers neue Kleider« oder »Das hässliche junge Entlein« schon sprichwörtlichen Charakter haben.
Mit »Der Schatten« wählt Grass dagegen eine Erzählung als titelgebend aus, die recht unbekannt ist, die aber den Leser damit konfrontiert, dass Andersens Geschichten mitnichten einer heilen Welt entspringen: Ein Schatten macht sich selbstständig, kujoniert seinen »Herrn« und bringt ihn letztlich um.
Unverkennbar ist hier, dass Andersen von dem deutschen Romantiker E.T.A. Hoffmann, dem »Gespenster«-Hoffmann, beeinflusst wurde. In GrassÕ Sichtweise auf die Märchen des Dänen, der sich aus den ärmsten Verhältnisse hochgearbeitet hatte, tritt das Dunkele, das vielen der Geschichten anhaftet, deutlich zu Tage - nicht nur in den gespenstisch anmutenden Lithographien zur Titelgeschichte.
Da wird der auf Überempfindlichkeit beruhende Schmerz der »Prinzessin auf der Erbse« auf ihren Matratzen in der Illustration von Grass nachvollziehbar, da zuckt man bei den Folterwerkzeugen der »Tante Zahnweh« unwillkürlich zusammen, da fröstelt es einen, wenn man das erfroren »Kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern« neben abgebrannten Zündhölzern sieht, die es mit seinen schönen Träumen gewärmt hatten.
Der kafkaeske Zug vieler der schönsten Märchen von Hans Christian Andersen gewinnt in der GrassÕschen Perspektive in seinen Lithographien Gestalt. Doch der 1875 verstorbene Erfolgs-Autor betritt zuweilen selbst die Szene - so in den Zügen des »Hässlichen jungen Entleins«, das sich als stolzer Schwan entpuppt: »Wie er sich auch verkleidet, Andersens Gestalt bleibt unverkennbar«, schreibt Günter Grass in seinem Nachwort zu diesen Buch, das den Leser und Betrachter in Text und Bild in seinen Bann zieht und das man so schnell nicht aus der Hand legen möchte - so gut fasst es sich an. Wolfgang Braun
Der Schatten. Hans Christian Andersens Märchen - gesehen von Günter Grass. 280 Seiten mit zahlreichen Lithographien. Steidl-Verlag Göttingen. 24,5 mal 31,5 Zentimeter. 39,50 Euro.

Artikel vom 01.04.2005