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Ein Schauer von Glück überströmt mich. Nur mühsam beginne ich meiner Leidenschaft wieder Zügel anzulegen. Zärtlich küsst mich Flaminia auf die Lippen. Wieder umfassen wir uns. Lange bleiben wir so stehen, bis wir in einem Takt atmen und uns vor Glück in tänzerischer Trance gegenseitig wiegen.
»Es wird Zeit, Liebster!«, haucht sie mir ins Ohr.
»Sehen wir uns morgen wieder?«
»Ja, morgen, Liebster É morgen schon É«
Ungläubig sehe ich sie an. »Ich kann es noch nicht glauben.«
»Das Wissen wiegt schwerer als der Glaube. Gibt es etwas Schöneres als den Gedanken an morgen?«
»Nein! Wahrhaftig, es gibt nichts É«, erwidere ich.
Sanft löst sie sich aus meinen Armen. Mit einem temperamentvollen Stakkatowirbel bewegt sie sich zur Mitte des Ateliers und nimmt vor dem Fenster eine hinreißende Pose ein. Der schwarze Rock schwingt zwei Handbreit hoch und gibt den Blick auf ein Paar schlanke Fesseln frei. Fast gebieterisch winkt sie mich zu sich.
»Ich möchte nicht, dass meine Dienerschaft Zeuge wird. Obwohl ich mir sicher bin, dass die meisten davon auf meiner Seite stehen, kann ich mich doch nicht auf die Verschwiegenheit aller verlassen.«
Ich nicke stumm und umfasse sie von hinten. Kopf an Kopf blicken wir hinunter in den kleinen Park.
»Wenn du morgen kommst«, flüstert sie, »dann betrete bitte das Haus dort über die Loggia. Das schmiedeeiserne Tor wird morgen offen sein. Nimm den direkten Weg zum Haus, und du gelangst unten zum Gartentor. Die rechte schmale Treppe führt direkt in den zweiten Stock. Wenn du die Tür öffnest, stehst du É«
»É vor der Himmelsleiter! Nicht wahr?«
»Ja, vor meiner Himmelsleiter.«
Flaminia dreht sich wieder zu mir. Zärtlich zwirbelt sie an meinem Bart und legt die Hände um meinen Hals. »Ich glaube, ich kann die Zeit bis morgen kaum überstehen; bereits jetzt schlägt mein Herz vor Aufregung bis zum Hals. Ich werde die heutige Nacht nicht verschlafen. Die Zeit ist zu kostbar. Ich werde dich in meinen Gedanken festhalten und so dem Morgen entgegenträumen. Mich erfüllt bereits jetzt eine unendliche Sehnsucht bei dem Gedanken an dich. Ich möchte jede dieser Minuten auskosten, verstehst du?«, haucht sie. »Weil ich weiß, dass ich dich morgen wiedersehe.«
Ich umfasse ihre schmale Taille. Als ob ich eine Tanzfigur mit ihr einstudieren wollte, hebe ich sie hoch. »Ich werde dich jetzt mitnehmen.«
»Nimm mich mit, für immer É doch erst musst du mich morgen zur dritten Stunde nach dem Mittagsläuten holen kommen.«
»Ich werde dich holen É«
Nach einer letzten leidenschaftlichen Umarmung verlasse ich auf gleichem Wege das Haus, wie ich es betreten habe. Meine Seele jubelt. Ich gehe zu Fuß zurück und wähle den Weg vorbei am Kolosseum. Dort klettere ich hoch hinauf und ritze mit meinem Messer unsere Initialen F & D in die jahrtausendealte Mauer, um mit meiner Geliebten ein unauslöschlicher Teil der Geschichte Roms zu werden.

Rom, 17. Juni 1650

N
ach der Tiefe der Nacht, im Wechsel zwischen langen Stunden des Halbschlafes und wachen Momenten voller Euphorie, sehne ich in Freude gebadet die aufgehende Sonne herbei. Etwas später, im hellen Morgenlicht, blicke ich durch das geöffnete Fenster hinaus in den blühenden Park und strecke mich der Länge nach. Es duftet nach Flieder.
Die geplante Zusammenkunft mit den tüchtigen Bildhauern habe ich hinausgeschoben. Ich kann die getrockneten Abgussformen auch später besichtigen. Ich fühle mich wie die griechische Skulptur, die von diesen harten Schalen wieder befreit ist. Ich wünsche mir den Tag ohne Wände und im hellsten Licht, wünsche mir, vor Wonne betäubt zu sein und meine Träume sich erfüllen zu lassen. Ich möchte den Tag genießen, möchte in ihn hineinbeißen und wünsche mir selbst vor Lust zerrissen zu werden. »Flaminia É Flamiiniaa É Flamiiiiniaaaa É!!«, rufe ich aus.
Sorgfältig pflege ich meinen Oberlippenbart, schleife meine Messer nach und rasiere mich selbst, besonders sorgfältig und glatt das Kinn, bürste mein langes Haar, lasse den Badezuber füllen und lasse mir danach einige Früchte und Brotstücke als Morgenmahlzeit bringen.
Als die Stunde naht, lasse ich mich entlang des Tiberbogens durch die Straßen Roms bis in die Nähe des Hauses bringen, um die restliche Wegstrecke zu Fuß zurückzulegen. Erst als ich den Einspänner zurückschicke und gedankenverloren durch die Straßen wandere, wird mir alles klar.
Gestern! Gewiss, ich habe mein Selbstvertrauen wiedergewonnen, ja, aber ich will dieses Geschöpf erobern, von dem ich mich so angezogen, so gebannt fühle, dass es mich wieder träumen lässt und wünschen, die starre Schale aller Gewohnheiten zu durchbrechen. Verbringe ich nicht den größten Teil meines Lebens im Hader mit den zweifelhaften Spielregeln des spanischen Hofes, ohnmächtig einem sinnlosen Einerlei unterworfen? Manchmal rekapituliere ich vor besonderen Ereignissen meinen gesamten Lebenslauf und entdecke dabei den Sinn mancher Geschichten, den ich so noch nicht erfasst habe. Doch es gelingt mir heute nicht, ausführliche Erinnerungen zurückzuholen, da die Wegstrecke diesmal nicht dafür ausreicht É
Angekommen entdecke ich über dem Eingang der Loggia einen musizierenden Engel. Für einen Moment bleibe ich stehen. Symbolisieren musizierende Engel nicht, dass der Himmel in mancherlei Hinsicht der Welt entspricht, in der wir leben? Gehe ich durch das Tor dem Paradies entgegen, in dem auf perfekte Weise die schönsten Seiten des menschlichen Lebens bewahrt bleiben? So wird es sein, schießt es mir durch den Kopf. Mir ist, als würde ich von himmlischer Musik begleitet.
Das eiserne Tor quietscht in den Angeln. Jedes Geräusch lässt mich aufhorchen. Ein Blick nach oben zum Atelier erfasst durch das kleinteilige Raster der hohen Glasfenster hindurch eine Gestalt. Es muss Flaminia sein. Sie wird gleich oben auf der Türschwelle stehen, denke ich mir, wenn ich die Himmelstreppe emporstürme - wie gestern.
Der Kies knirscht unter meinen Schritten. Von einem riesigen Strauch Rosmarin rupfe ich einen jungen Zweig, zerreibe ihn zwischen meinen Fingern und schnuppere das Aroma. Die Gartentür des Haupthauses ist ebenfalls unversperrt. Alles öffnet sich mir, meine Gedanken fliegen mir voraus. Der Garten ist Magie; dieses Haus ist Magie. Das alles ist eine Sage aus einer fernen Zeit. Mein Puls geht schneller. Federnden Schrittes nehme ich die erste Treppe und gelange in die Galleria des Obergeschosses. Erst heute bemerke ich, wie viele antiken Liebesszenen hier aneinander gereiht sind. Die zweite Nebentreppe ist schmal, flankiert von reinweißen Wänden. Die letzte stürme ich hinauf, als trüge ich die Fackel des Glücks vor mir her.
Schon bin ich oben an der Himmelstür. Langsam drücke ich sie auf. Vor mir steht ein strahlender Engel - Flaminia.
Sie trägt ein hyazinthenblaues Kleid. Es ist sehr eng anliegend geschnitten, was ihre schlanke Taille umso mehr betont. Der Stoff ist dünn und leicht, vielleicht eine besondere Seide, die weich und duftig über ihre Hüften und ihre langen Beine schwingt und nur ihre Fesseln freilässt. Das Oberteil ist mit doppeltem Stoff genäht, ebenso wie der Rock, der ihr bis zum Brustansatz reicht und von dünnen Trägern gehalten wird. Darüber, in gleicher Farbe, sind Schultern und Arme von einer transparenten, feinen Spitze überzogen. Auf jeden Fall lässt es mich mehr erahnen, als es verhüllt. So sehe ich durch das Kleid hindurch - ich sehe nur meine Geliebte.
Sie hat den Bogen ihrer Brauen nachgezogen, den Mund etwas rot geschminkt. Ihre Lippen wirken dadurch voller, sinnlicher. Die Atelierfenster sind diesmal auf der rechten Seite geöffnet. Ein warmer Frühlingswind raschelt in den Zweigen des Baumes. Behutsam verschließe ich hinter mir die Tür und sichere uns ab gegen den Alltag der Welt. Ich bin wieder im Paradies. Ein hochfliegender Moment, und wir liegen uns in den Armen.
»Flaminia, mein Engel É ich liebe dich!«, presse ich heraus.
»Diego, Liebster, ich konnte es kaum erwarten, dich heute zu sehen. Die Stunden seit gestern wollten einfach nicht vergehen. Sie kamen mir so unendlich lang vor. Aber so hatte ich viel Zeit, mich auf unser Wiedersehen zu freuen - an dich zu denken und von dir zu träumen. Die Sehnsucht nach dir hat Gefühle in mir wachgerufen, wie ich sie bisher nicht kannte. Leidenschaften ohne Ende. Eine unbändige Freude auf heute und grenzenlose Lust auf dich. Aber jetzt endlich ist es so weit É«
Wir liebkosen uns flammend. Nichts außer unserem ungehinderten Treffen ist vorausbedacht; es herrscht nur Selbstvergessenheit, der Drang nach dem Pflücken der himmlischen Früchte und die rasende Leidenschaft, die uns endlich zueinander treibt.
»Komm! Komm mit, wir sind allein!« Sie nimmt mich bei der Hand, und ich folge ihr durch die kleine Tür auf einen kurzen Zwischengang. Sie ist es, die mich führt. Das Obergeschoss besteht aus einer Folge von kleinen Zimmern, die von einem Korridor aus erreichbar sind. Nachdem wir uns im Halbdunkel an mehreren Türen vorbeigetastet haben, stößt Flaminia sanft eine rot gestrichene Tür auf, hinter der sich ein lichter Raum öffnet.
Stille. Ich tauche ein in eine Fantasiewelt. Der Raum ist Flaminias Zuflucht besonderer Art und Schönheit. Ein kleines Ruhekabinett, in dem die Liegestatt den meisten Platz beansprucht. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 15.04.2005