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Ich blicke durch die wuchtigen Fenster hinaus auf die Via del Corso und versuche, wie schon so oft, meinen Diener in der Menge auszumachen.
Das weite Rom breitet sich vor meinen Augen aus, und doch ist in diesem Moment die Stadt zu einem Kerker für mich geworden. Ich bin ein Gefangener meiner Gefühle. Die Erinnerung an mich muss bei Signora Triva schon zerfallen sein, wie die Göttertempel auf dem Forum Romanum.Erst gestern ließ das Betrachten der Ruinen in mir langsam die Gewissheit wachsen, dass dieser Zerfall sicherer ist als alles andere. Entsinne ich mich doch der Worte eines Bettelmönches, die dieser zitierte, als ich zu den Mauern des Kolosseums hochblickte: Solange das Kolosseum steht, steht auch Rom; wenn das Kolosseum fällt, fällt auch Rom; wenn Rom untergeht, vergeht auch die Welt É
In manchen Momenten wäre es mir recht, das Kolosseum würde einstürzen und mit ihm die ganze Welt. Mein Seelenschmerz wäre ausgestanden É
Vielleicht bewirkt die Gluthitze der Sonne diese Illusion, die nur ganz kurz anhält, aber ich glaube einen Menschen im Strom der Vorüberziehenden zu erfassen, der sich in wilder Hast seinen Weg bahnt. Er könnte es sein. Ist er es? Ja, er ist es. Es ist Esquivel!
Gespannt erwarte ich das Klopfen an der Tür. Ich weiß, ich muss Gelassenheit an den Tag legen. Doch es gelingt mir nicht. Ruhelos gehe ich im Salon auf und ab. Warten und Hoffen gehören zu meinem Leben wie Farbe und Leinwand.
In diesen Wochen herrscht ein unerträgliches Warten vor. Ich kenne dieses Gefühl schon von Kindesbeinen an. Ich träumte das Warten jahrelang. Ich weiß zwar nicht mehr, wann ich den Traum zum letzten Mal hatte, doch als Jüngling in Sevilla träumte ich ihn fast jede Nacht. Ich wartete in meinem kleinen Zimmer immer auf Mercedes. Sie war die kleine Prinzessin aus dem vornehmen Haus in unserer Straße. Im Traum versprach sie mir, mich zu besuchen. Doch ich wartete vergebens. Ich war ihr aber deswegen nie gram, da sie mir zulächelte und mir immer wieder von neuem versprach, zu mir zu kommen. Ich weiß bis heute nicht, warum mich dieser Traum begleitet. Irgendwann wurde aus Mercedes ein Mädchen, später eine Frau. Wenn sie mir im Traum erscheint, kommt sie mit entschlossenen Schritten und entschlossenen Absichten. Doch kurz bevor sie mich erreicht, bricht der Traum plötzlich ab É
Gestern erst träumte ich etwas Ähnliches. Die Tür springt auf - ich sehe das Bild einer in Leinwand gewickelten Frau. Es gibt keine Worte, keine Szene, keine Handlung. Farben, Licht und Schatten tanzen ineinander. Dann verliert sich der Traum. Erst in den Morgenstunden, so glaube ich, nimmt er wieder seinen Fortgang, ohne dass ich ihm zu einem erfüllten Ende folgen kann É
»Wo bleibt nur Esquivel?«, fluche ich still vor mich hin. Er müsste doch schon längst an der Tür sein. Es dauert eine Ewigkeit - doch endlich höre ich das Klopfen.
»Herein! Herein!« Ich versuche, meine Stimme so normal wie möglich klingen zu lassen.
Esquivel tritt ein. Bereits sein freudigen Grinsen bringt mein Herz zum Rasen. »Nun?«
»Heute É«, sagt Esquivel atemlos. »Heute Nachmittag É zur fünften Stunde erwartet dich Signora Triva in ihrem Atelier!«
Ich glaube meinen Ohren nicht zu trauen. Doch diesen Satz kenne ich. Und ob ich ihn kenne. Wie oft habe ich ihn in den letzten Wochen mir selbst vorgesagt? »Signora Triva erwartet dich É« Wie oft habe ich ihn wie einen Psalm hergebetet.
»É zur fünften Stunde É«, wiederhole ich langsam. Mit dem Atemstrom verlässt die Anspannung meinen Körper.
Zwischen Esquivel und mir herrscht einen Augenblick lang Schweigen. Es ist ein unbeschreiblicher Moment, einer, der zu den seltsamsten gehört, die ich bisher erlebt habe. Die Vorstellung dessen, was kommen mag, nimmt mich gefangen. Ich gebe meinem Diener ein stummes Zeichen. Er versteht, übergibt mit ein Papier mit einer Skizze und verlässt den Salon.
Als ich etwas später aus dem Salon hinaus auf den Flur der Galleria trete, blicke ich zum Gewölbe hoch, das Pietro Cortona unlängst mit bunten Bildern freskiert hat. Die Darstellung der Irrfahrten des Äneas, den es nach der Zerstörung Trojas mit seinen Gefährten nach Italien verschlug, gleichen sehr meiner Seelenreise in den letzten Wochen.
Viel zu früh mache ich mich auf den Weg. Ich benötige Esquivels Skizze nicht. Längst habe ich ganz genau herausgefunden, wo ihr Atelier in Rom liegt. Ich nehme den Einspänner des Hauses, lasse mich aber weit vor dem Ziel absetzen und gehe, der Etikette zum Trotz, zu Fuß weiter.
Vom Äußeren her wirkt das dreistöckige Gebäude schlicht, trotz der stuckverzierten Außenfassade. Auf der Rückseite befindet sich ein kleiner, kunstvoll gestalteter Garten, der von einer Mauer mit Loggia umgeben ist. Über dem Hauptportal prangt ein Wappen. Es muss das der noblen Familie ihres Mannes sein. Als ich das Gebäude betrete, sehe ich, dass es im Inneren über prachtvoll ausgestattete Räume verfügt. Stuckbänder, Wandmalerei und Rillenputz verbreiten eine fröhliche Stimmung. Das alles zieht an mir vorüber, ohne dass ich es richtig zur Kenntnis nehme.
Eine Dienerin geleitet mich zum Obergeschoss und weist mir dort die Richtung zum Atelier. Ich schreite vorbei an den Räumen des Piano nobile, deren kostbare Einrichtung ich mit einem Blick durch die halb offene Tür wahrnehme. Am Ende des Ganges erreiche ich eine Treppe, die offensichtlich zum Atelier führt. Ich blicke mich um und vergewissere mich, ob mir jemand gefolgt ist. Ich bin allein. Es ist still im Haus. Ich räuspere mich und nehme Stufe für Stufe. Zwei Alabasterleuchten erhellen den Aufgang. Es ist, als erklimme ich die Himmelsleiter. Auf der vorletzten Stufe öffnen sich wie von Geisterhand zwei Flügeltüren.
Das Erste, was ich zu Gesicht bekomme, sind hohe Fensteröffnungen, die mit üppigen kardinalroten Vorhängen drapiert sind. Von draußen reichen die Äste eines mächtigen Baumes bis nahe an die schräg eingesetzten Glasfenster heran. Staffeleien von unterschiedlichen Größen sind seitlich links und rechts an der Wand aufgestellt. Auf ihnen ruhen Bilder, die mit blauen Tüchern verhüllt sind.
»Meister Velázquez, tretet ein in mein Reich!«, vernehme ich Signora Trivas Stimme mit dem unverwechselbaren glockenhellen Klang. Durch eine der Flügeltüren halb verdeckt steht sie vor mir und lacht mit den Augen. Sie trägt ein schwarzes, nur um die Taille eng anliegendes Kleid, das duftig um ihre Gestalt zu schweben scheint. Ich fühle mich wie verzaubert. Wenn Schönheit ein Versprechen auf Glück bedeutet, so ist meine Liebe zur Schönheit der unbeirrbare Drang nach diesem Glück.
»Ich fühle mich unendlich befreit, Eure Einladung erhalten zu haben.«
Langsam schließen sich die Flügeltüren hinter uns. Die Signora reicht mir ihre Hand zum Kuss. »Ich hätte sie Euch gerne früher übermittelt. Ich war nicht frei in meinen Entscheidungen.«
Als ich ansetze, etwas zu erwidern, macht sie »Schsch« und berührt zu meiner völligen Verblüffung meinen Mund mit ihren Fingern.
»Manchmal liegen die Dinge ein wenig verschlungen. Der Tag ist viel zu schön, als dass wir über gestern reden sollten.«
Ihre Worte verwirren mich. Mit einer kapriziösen Geste bietet sie mir einen der beiden gepolsterten Armlehnenstühle an.
»Ich bin einfach glücklich, da ich mir kaum noch Hoffnung É«
»Schsch!«, unterbricht sie mich wieder anmutig. »Nehmt einfach Platz.«
Ich lasse meine Augen wandern. Auf dem kleinen runden Tisch, dessen weißes, an den Rändern mit Sonnen besticktes Tischtuch bis auf den Boden reicht, gruppieren sich um einen Kerzenleuchter zwei zerbrechlich wirkende Tassen und eine rote Tonkanne, aus deren Schnabel ein anregendes Aroma entweicht. Es ist Kaffee, das Getränk, das, aus der muselmanischen Welt kommend, in Rom durch geschäftstüchtige getaufte Türken seinen Siegeszug angetreten hat. Es gibt ein Bücherregal, eine wuchtige Anrichte und einen Arbeitstisch, der auf der einen Seite vollgestellt ist mit Flaschen, Tiegeln, Farbbrocken, einem Mörser, einem Reibstein und einem Häufchen Muschelschalen. Auf der anderen Seite liegt ein Bündel von Spachteln, Kitt- und Palettenmessern neben aufgestapelten Zeichenblättern, Stiften und Kreiden, Linealen und Maßstäben. Zwei Paletten und ein Malstock, Maserier-Kämme, Schab- und Ziehklingen und Aufspannzangen sowie zwei bauchige Vasen voller Haar- und Borstenpinsel vervollständigen das Bild.
Ein aus vielen Einzelscheiben zusammengefügter deckenhoher Spiegel ziert die Längswand. Da sich auf der gegenüber liegenden Seite noch eine Tür befindet, vermute ich, dass sich dahinter noch weitere Räume anschließen, die der Malerin als Magazin dienen. Mein Blick richtet sich auf den Boden, der aus einem gut gelegten eichenen, mit Leinöl getränkten Riemenboden besteht, wie ich ihn von den Decks der Schiffe her kenne. Farbflecken vor dem Arbeitstisch verraten den Platz, an dem Gehilfinnen oder Gehilfen Flaminia zu Hand gehen. Nur einige blankgewetzte Stellen im Fußboden lassen meine Fantasie den bevorzugten Standort der Signora selbst bestimmen, die dabei ist, mir die Tasse zu füllen.
»Ich kann es kaum fassen, Euch hier bei mir zu wissen«, sagt sie sanft
Mit einer kaum merklichen Neigung des Kopfes gibt sie mir zu verstehen, dass sie mehr empfindet, als ich erraten kann. Doch dieses Mehr ist nicht auszuloten.
»Ich freue mich darauf, Eure Bilder betrachten zu dürfen«, erwidere ich, während sie die Tasse zum Mund führt. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 13.04.2005