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Das Schwein geknebelt und entführt

Hamstern, Betteln und Stehlen: Dem mörderischen Krieg folgte der Hunger auf dem Fuße

Bielefeld (WB). In jenen Tagen, als endgültig das Dritte Reich zerfiel, versank auch die Versorgung mit Nahrungsmitteln im Chaos. Die Bevölkerung, bis dahin über Lebensmittelkarten mehr schlecht als recht versorgt, begann wirklich zu hungern. Fortan hieß es: Nimm, was du kriegen kannst.

Die NS-Gaufrauenschaft empfahl - dies zeigt ein Dokument in der alten Osthusschule, dem jetzigen Senner Heimatmuseum -Ê die Herstellung von Brotaufstrichen in Form aromatisierter Mehlschwitzen. Einen Monat vor der Besetzung veröffentlichte Bielefelds linientreues Organ, die »Westfälischen Neuesten Nachrichten«, ein Rezept für »Bratkartoffeln ohne Fett« - eine Mahlzeit nur mit einem Achtelliter Milch, ein paar Zwiebeln, Salz und Wasser. Es folgte ein Artikel über den korrekten Gebrauch der Panzerfaust . . .
Selbst die Verpflegung der kämpfenden Truppe funktionierte nun nicht mehr. Man empfahl den Soldaten, sich in den umliegenden Geschäften, bei den Bäckern und Fleischern, zu »versorgen«. Was das für die Zivilisten bedeutete, wenn die Läden mangels Ware ohnehin höchsten ein, zwei Tage in der Woche öffneten, kann man sich leicht ausmalen.
Glück musste man haben. Sennes Ortsheimatpfleger Hans Schumacher (67) erzählt: »Meine ältere Schwester arbeitete in einer Apotheke in Rheda. Am Wochenende brachte sie uns manchmal zwei Liter Lebertran mit. Kartoffeln wurden in Lebertran eingestippt, Reibekuchen in Lebertran gebraten - grauenvoll, aber sättigend.«
Eltern verbrachten ganze Tage damit, etwas Essbares für ihre Kinder aufzutreiben. »Wie oft hat meine Mutter beim Bauern gebettelt und ist - mit Tränen in den Augen -Ê nur mit einer Handvoll Kartoffeln zurückgekehrt«, erinnert sich Schumacher. »Und wenn ich mit einer Kanne loslief, weil irgendwo ein Lkw mit Steckrübensuppe gesichtet worden war, hieß es immer: ÝSag der Frau, sie soll umrühren, bevor sie dir einschenkt!Ü Dann schwamm nämlich ein bisschen ÝDickesÜ nach oben.«
Gelegentlich gab es gekochte Schweineohren - pro Esser eines. »Ich war damals sieben Jahre alt und habe mich immer gefragt, wo wohl all die Schweine zwischen den Ohren geblieben sind . . .«
Als sich am 3. April auf der Straße Richtung Café Busch drei amerikanische Lkw verfuhren, schoss jemand den zweiten Wagen in Brand. Die Ladung des ersten - Benzin - versickerte in einer Kaserne, den dritten umstand eine Menschenmenge, die mit Harken wahre Schätze von der Ladefläche zog: Kekse, Schokolade, Büchsenfleisch und die einzig gültige Währung jener Tage: Zigaretten.
Niedrige Hemmschwellen. Am 3. April plünderte die Bevölkerung das Luftwaffenbekleidungsamt am Stadtholz (heute ein Fachhochschulgebäude), einen Tag später das Heeresverpflegungsamt an der Meisenstraße (jetzt teilweise von der GAB genutzt). Man belud sich turmhoch - oft mit mehr Dingen, als man tragen konnte, notierte der Amtsverwaltungsrat Wilhelm Schwarze angewidert. Der Alkohol sei zumeist an Ort und Stelle konsumiert worden, das unersetzliche Mehl wurde überall verstreut. »Ein Durcheinander zum Gotterbarmen. Das ist das Chaos. Da werden Menschen zu Hyänen.«
Den Einzug der Sieger, die alle Häuser durchsuchten, mussten die Bielefelder im Keller absitzen. Tante Liese, eine Verwandte Schwarzes, fand, als sie wieder »auftauchte«, einige Schnitten Weißbrot auf dem Küchentisch, »so weiß soll es in Deutschland noch kein Brot gegeben haben.« Tage später beobachtete der würdige Verwaltungsrat von weitem einen GI beim Verzehr einer Tafel Schokolade. »Die hätte ich ihm am liebsten fortgenommen.«
Es war eine gefährliche Zeit. Auch für Schweine. »In der Nacht vom 9. zum 10. XII. wurde bei dem Landwirt Wilhelm Wißbrock eingebrochen und ein Schwein von etwa 350 Pfund entwendet«, tippte 1945 ein Ordnungshüter in ein Polizeiprotokoll, das heute im Heimathaus Brackwede aufbewahrt wird. Die Stalltür wurde aufgehebelt. »Hierauf haben die Täter das Schwein, damit es nicht schreien konnte, geknebelt.« Zum Waldrand geführt und abgestochen.
Die Polizei entdeckte das Borstenvieh in der Scheune der Witwe O. und legte sich auf die Lauer. In der Nacht nun nahten dunkle Gestalten und riefen in gebrochenem Deutsch: »Ist da jemand? Wir schießen! Wir werfen Granaten!« Angesichts dieser unerfreulichen Aussichten schoss der Gendarm lieber zuerst, woraufhin das lichtscheue Gesindel Fersengeld gab. Und zur Freude der Zivilbevölkerung wurde das Schwein in die Nahrungskette eingegliedert.
Am Donnerstag lesen Sie: Von den Einwohnern völlig unbemerkt, schrammt Jöllenbeck knapp an einer Katastrophe vorbei.

Artikel vom 29.03.2005