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In mehreren Kehren windet er sich schlangengleich den zerklüfteten Berg hinauf. Zäh stapfen die Pferde in kurzen Schritten vor sich hin. Bergdohlen flattern immer wieder vor uns auf. Wir erreichen schließlich eine Felsterrasse, von der sich ein Ausblick bietet wie auf das Wunder des dritten Schöpfungstages, als Erde und Himmel, Berge und Gewässer das erste Mal auseinander traten. Das Tal liegt tief unter uns, und der Blick von unserer Höhe erfasst eine ungeheuer weite Bühne, welche die ganze Gewalt vor Augen stellt, mit der einst der Schöpfer die Berge aufgetürmt und die Täler tief eingeschnitten hat. Ein klotziger Fels zur Linken trägt mehrere sturmzerzauste Bäume, deren Wurzeln sich wie beschützend um den glatten Granit schlingen. Zwischen dem Felsgeröll ist der Eingang in eine Höhle sichtbar, die wahrscheinlich nachts wilden Tieren als Unterschlupf dient. Unsere Straße schlängelt sich in ihrem weiteren Verlauf zwischen diesem Block und einer ganzen Geröllhalde hindurch, die rechts von uns stufenförmig den Berg hinauf zu verfolgen ist. Riesige Felsbrocken und Steingeröll dazwischen geben stummes Zeugnis für einen von Gigantenhand entfesselten Bergsturz vor uns. Zwischen den Felsbrocken ergießen sich Wasserbäche, die immer wieder in kleine Tümpel zusammenströmen. Wende ich die Augen weiter bergwärts in ferne Höhen hinauf, so erfasse ich dort oben die wogenden Ketten baumloser Steinhügel. Der Blick in die Weite der Landschaft vor uns folgt dem Zickzack unserer Straße bis zu einer drohend aufragenden Mauer aus mächtigen kahlen Felsblöcken; einige davon wirken wie hohe, grauschwarze Steintürme. Neben dem steilen Hang dieses bizarren Gigantentempels geht der Blick abwärts meilenweit über ein fernes Tal und schließlich auf eine Kette blau gefärbter Berghügel in der Ferne.
Der Anblick dieser karstigen Bergwelt versetzt mich in Gedanken zurück nach Spanien, lässt mich an die Reisetage vor Malaga denken. Zum Glück ahnt niemand in meiner Familie und von meinen Freunden in Madrid die Anstrengung, die das Durchqueren solcher Gebirge wie des Apennin bedeutet. Sie wissen nicht, welche Wildnis hier immer wieder außerhalb der Städte anzutreffen ist, stellen sich Italien als eine einzige liebliche Campagna mit einer sanften Küstenlandschaft vor. Sie malen sich aus, dass ich in Gondeln und in Marmorpalästen unterwegs bin, wie ich das in meinen letzten Briefen auch beschrieben habe. Zum Glück haben sie keine Vorstellung davon, dass man nur unter großen Gefahren und Entbehrungen in das herrliche Rom gelangt, was vielleicht der wahre Grund dafür ist, dass den Pilgern große Sünden erlassen werden!
Es ist ein kräftezehrender Pilgerweg, auf dem ich für meinen König unterwegs bin. Meine Wallfahrt wird teure Andenken beinhalten und statt der Gebeine von Heiligen den Glanz edler Kunstwerke nach Madrid befördern. Mein König wird die Früchte meiner mühseligen Expedition dann selbstverständlich nebeneinander reihen, ohne dass zwischen den einzelnen Bildern und Figuren steht: eine Woche Gebirgsdurchquerung! Drei Gewitter und ein Sturz von einer baufälligen Brücke! Oder: Stürme überlebt und Entbehrungen auf See ertragen! Von den mühseligen Transporten zu Lande und zu Meer gar nicht zu reden!
In diesen verlassenen Gegenden ist die Natur bedrohlich, aber auch die Begegnung mit Menschen oft ein Abenteuer. Es heißt, es gebe banditi, Gesetzlose, in diesen Bergen. Ich habe mir daher vom Grafen Segni in Bologna zwei junge Kerle, Ottavio und Guido, anheuern lassen, die uns bis Florenz begleiten werden. Zwei Hünen, furchtlos zwar, doch keinem Saufgelage abgeneigt. Gestern Abend allerdings haben sie uns mit ihren fröhlichen Liedern trefflich unterhalten. Unsere beiden Beschützer bilden die Vorhut. Dann folge ich mit Juan. Wann immer es der Weg zulässt, reiten wir nebeneinander, doch meist befindet sich Juan nah hinter mir. Den Schluss unseres kleinen Trosses macht Esquivel, der nicht nur unser aufgeschnalltes Gepäck im Auge behält, sondern auch nach hinten sichernde Blicke wirft. Unsere Vorhut reitet auf leichtfüßigen Pferden, meine Leute und ich dagegen benutzen im Gebirge kräftige Tiere, die den Steigungen trotz der Traglasten gut gewachsen sind.
Wir sind inzwischen der dunklen Steilwand näher gekommen, an deren Fuß der Weg eine Biegung macht und nach rechts, weiterhin leicht ansteigend, in einen engen Hohlweg hineinführt. Die beiden Bolognesen geben uns ein Zeichen zu warten, bis sie den Hohlweg durchritten und auf eine sichere Passage hin ausgespäht haben. Kurz darauf kommen sie zurück und geben uns das verabredete Zeichen. Die Passage ist sicher. Ich schwenke, eng gefolgt von Juan und Esquivel, in den engen Hohlweg ein. Wie immer in solchem unübersichtlichen Gelände, geben wir unseren Pferden die Sporen, um so schnell wie möglich wieder freie Sicht zu gewinnen.
Wir sind nicht mehr als zwanzig Schritte geritten, als ich vor uns Ottavio und Guido brüllen höre: »Überfall! Überfall!« Ich reiße mein Pferd herum, um zurückzusprengen, da sehe ich hinter uns dicht hintereinander drei Reiter auf den Hohlweg zu galoppieren. Steine prasseln hernieder. Im gleichen Moment werde ich getroffen. Ich spüre einen stechenden Schmerz an meinem linken Knie. Das Pferd scheut. Ich reiße es mit dem Zügel wieder herum. Es bäumt sich auf und macht einen Satz rückwärts. Und schon poltern unmittelbar neben uns schwere Steinbrocken auf unseren Weg. Ein Inferno bricht los. Das Gebrüll kommt von oberhalb der Hügelkante. Juan hat ebenfalls sein Tier herumgerissen und versucht zurückzujagen, kommt aber an Esquivel nicht vorbei, der gerade abgesprungen ist und neben seinem Pferd hinter einer Felskante Deckung sucht. Unbewusst nehme ich Gestalten wahr, die Pistols in ihren Fäusten halten. Esquivel hat bereits seine beiden Waffen gezogen und feuert sie auf die Steinwerfer ab, als diese unmittelbar über uns erscheinen. Nur noch wenige Schritte trennen uns von den Gestalten, die hinter uns den Hohlweg abgeriegelt haben und nun bedrohlich auf uns zukommen.
»Runter!«, schreie ich. »Deckung!«
Wir ducken uns seitlich an Felsbrocken und Steinnischen. Ich reiße meinen Degen heraus und decke Juan, der, so schnell es geht, unsere rauchenden Pistolen nachlädt. Hier gibt es kein Entweichen. Wir hätten ahnen können, dass in einem solchen Hohlweg eine Falle auf uns wartet, und hätten die nächste Reisegruppe abwarten müssen! Doch nun werfen die Steinwände den Hall hundertfach zurück: Schüsse, panisches Pferdegewieher, Schmerzensschreie und das Gebrüll aus vielen Räuberkehlen schmerzen in meinen Ohren.
Ich reiße die geladenen Pistolen an mich und ducke mich hinter einen Felsbrocken. Dann springe ich seitlich hinter den Rücken meines Pferdes.
»San Diego und alle Nothelfer! Lasst uns nicht Opfer dieser Strolche werden! Rettet uns! Wir werden alle römischen Pilgerkirchen besuchen und euch Kerzen stiften«, sende ich mein Stoßgebet zu meinem Namenspatron und hoffe, dass er mich erhören möge.

(wird fortgesetzt)

Artikel vom 02.04.2005