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Streit um EU-Haftbefehl

Neues Recht hebelt Grundsatz des »natürlichen Richters« aus

Von Rolf Dressler
Brüssel (WB). In der Praxis entzieht er betroffene Bürger der Gerichtsbarkeit des Heimatlandes, macht Tatverdächtige zu Spielbällen und Auslieferungsobjekten der Justizbehörden: Den sogenannten Europäischen Haftbefehl gibt es, von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen, schon seit Juni 2002.

Mit Blick auf den Terrorismus soll die Europäische Union (EU) damit zu einem »einheitlichen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts« erhoben werden. 32 kriminelle Delikte können einen EU-Haftbefehl auslösen: von Menschen- und Waffenhandel über sexuelle Gewalt gegen Kinder, Korruption, Rauschgiftverbrechen, Geldwäsche und Geldfälschung, Umweltkriminalität, illegale Einreise und Schutzgelderpressung bis hin zu Internetkriminalität und Rassismus und Fremdenfeindlichkeit.
Bisher war in den Verfassungen der meisten Staaten Europas ausdrücklich festgeschrieben, dass ein eigener Staatsbürger grundsätzlich nicht gegen seinen erklärten Willen an ein Gericht im Ausland überstellt werden durfte. Genau das jedoch ist jetzt jederzeit möglich, sobald ein EU-Haftbefehl - auch schon im bloßen Verdachtsfall - wegen einer jener 32 Listen-Delikte ausgefertigt worden ist. Einzige generelle Voraussetzung dafür ist: Der Beklagte muss dort eine Gefängnisstrafe von mindestens einem Jahr zu erwarten haben.
Konkret bedeutet das:
- Ein Deutscher, der zum Beispiel eines Umweltvergehens in Österreich beschuldigt wird, müsste sofort an dieses EU-Nachbarland ausgeliefert werden.
- Grundsätzlich aber muss das betreffende Delikt, das einen EU-Haftbefehl auslöst, nicht einmal in dem Land begangen worden sein, dessen Justiz die Tat verfolgen und ahnden will.
- So könnte etwa das künftige EU-Mitglied Türkei gegen einen deutschen Staatsbürger einen EU-Haftbefehl schon wegen des diffusen Verdachtes auf »rassistische oder fremdenfeindliche Umtriebe« erwirken.
Polizeibehörden, ob in Bielefeld, Hamburg oder Rostock, müssten den Beschuldigten dann unverzüglich festnehmen und ihn an die türkische Justiz ausliefern.
- Besonders einschneidend: Beschuldigte haben keine Möglichkeit, gegen Verhaftung und Auslieferung Einspruch einzulegen. Sie sind damit als Staatsbürger ihres Heimatlandes sogar schlechter gestellt als illegal eingereiste Ausländer, die einen Ausweisungsbeschluss jederzeit gerichtlich anfechten können.
- Zudem ist es den deutschen Justizbehörden verwehrt zu überprüfen, ob der betreffende Haftbefehl überhaupt rechtlich fundiert begründet ist oder nicht.
Vor der Einführung des EU-Haftbefehls hingegen galt in al- len demokratischen Staaten Eu- ropas traditionell das verbriefte Prinzip des »natürlichen Richters«. Anklageverfahren wurden entweder vor dem für den Wohnsitz des Beklagten zuständigen Gericht verhandelt oder in dem Gerichtsbezirk, in dem die Tat verübt worden war.
Auch dieser bewährte Grundsatz der »natürlichen Nähe zwischen Tat(ort) und Täter« sollte einen möglichst fairen Prozess garantieren. Auch er aber wird durch das Instrument des EU-Haftbefehls völlig umgestoßen.
Seite 4: Hintergrund
und Leitartikel

Artikel vom 23.03.2005