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Am Rand stehen mehrere Beträge in zierlicher Schrift, die schnell nach oben springen. Ich kann zwischen fünfzig und eintausendzweihundert Scudi wählen. Welche Dienste an den Besuchern werden wohl mit solchen Summen honoriert?
»Die Señoras!«, vernehme ich ihre helle Glockenstimme neben mir, indes sie auf die kerzenbeschienenen Bilder an der Wand zeigt. »Trefft Eure Wahl. Die Dame wird Euch oben im Salone del Vulcano zugeführt.«
Langsam schreite ich die Wand ab, während Signora Emiliana jeden meiner Schritte beobachtet. Die Abgebildeten sind figürlich unterschiedlich proportioniert, doch die Haare der Damen sind ausnahmslos blond gefärbt. Eingehend betrachte ich mir die Gesichter, die mit wenigen Strichen recht geschickt wiedergegeben sind. Während die eine sitzend im Bade abgebildet ist, räkelt sich die andere raffiniert auf einem Kissen. Gleich daneben entdecke ich das Abbild einer verschämten Grazie, deren Blöße bedeckt ist von einem durchsichtigen Gespinst, das ihre Reize mehr hervorhebt als verbirgt. In dieser merkwürdigen Galerie werden die Wünsche großzügig erfüllt, welche die viel begabteren Maler der fürstlichen Palastgemächer sich und ihren Bestellern verwehren müssen. Wie unser Seelenwächter Fischauge dies wohl fände? Und wie Don Gaspar de Haro? Wer weiß? In jedem Fall reicht der Blick des Betreffenden über die engen Gassen von Madrid nicht hinaus. Hier - in sicherer Entfernung von der Zuchtrute der Inquisition - nehmen sich Frauen das Recht auf Schönheit und freie Liebe. Sie entblößen ihre Brüste und schminken sie, wie sie ihr Gesicht schminken.
»Was für eine prächtige Statue!«, rutscht es mir beim Anblick einer nackten Aphrodite vor einem blauen Betthimmel heraus, die sich höchst anziehend mit Standbein und Spielbein in Positur gestellt hat und sich wie ein Bild aus makellosem Carrara-Marmor darbietet. Ich werfe unwillkürlich ein zweites und drittes Mal meinen Blick auf diese Darstellung.
»Trefft in Ruhe Eure Wahl. Wenn Ihr unentschlossen seid, wählt Euch zwei oder drei der Damen. Genießt es, denn Ihr seid heute Nacht ein Gast eines spendablen Freundes. Ihr habt nichts zu bezahlen.«
»Oh, wie großzügig von meinen Gönnern! Die Wahl ist schwerer als die des Herkules am Scheidewege, so sehr zieht es mich in alle Richtungen«, erwidere ich vergnügt, wobei mir klar ist, dass mein Einsatz für den König - oder ist es der für de Haro? - diese Dreingabe vonseiten meines neugeworbenen Agenten schon verträgt.
Als ob ich meine Entscheidung getroffen hätte, gehe ich nochmals zu dem Abbild der antikischen Marmordame zurück, beobachte allerdings aus den Augenwinkeln heraus die Signora. Sie ist es, auf die meine Wahl schon beim Betreten des Hauses gefallen ist - leider weiß sie es noch nicht. Schade, dass ich trotz der angeblichen Verwandtschaft des Spanischen mit der venezianischen Mundart nicht über die italienischen Flötentöne verfüge, um die hiesigen Edeldamen zu umschmeicheln. Doch fühle ich, dass Donna Margarita mich nach wie vor beobachtet.
Sie ist die Einzige, die offensichtlich natürliches Haar trägt. Ihre Frisur ist wie ein kunstvolles Nest gestaltet, und darüber trägt sie einen Putz, der sich wie ein Nachtfalter ausnimmt und das durchsichtige Blau ihrer Augen hervorhebt. Ihre Gestalt wird von einer dunkelblaue Robe mit goldenen Litzen raffiniert umhüllt, und ihren Hals schmücken Ketten aus feingliedrigem Gold.
»Wie wärÕs, wenn wir plauderten?«, frage ich sie mit dem Mut eines Löwen.
»Wollt Ihr nicht teilnehmen am Venusfest?«, fragt sie erstaunt zurück. Dabei mustert sie mich, stemmt ihre Hand in die Hüfte und wippt dabei mit ihrem linken Fuß. »Wollt ihr versäumen zu erleben, wie die jungfräuliche Jagdgöttin Artemis mit ihren Nymphen durch den Salone del Vulcano zieht, um die bedrohte Unschuld meiner Damen zu schützen, bis sie Aphrodite unterliegt, die unsere Mänaden den wilden Satyrn preisgibt?«
»Daran mögen andere Gefallen finden, Signora. Ich bin schon im Bann von Aphrodite, die mir meine Wahl bereits abgenommen hat.«
»So? Wer ist denn die Auserwählte?«
Ich fasse ihre Hand und führe sie zu meinen Lippen. »Meine Wahl fällt auf Euch, auf Aphrodite selbst«, hauche ich und blicke ihr tief in die Augen. Ich fühle, dass sie zustimmen wird, denn sie entzieht mir nicht ihre Hand.
»Ich lasse Euch nach oben geleiten«, sagt sie mit vibrierender Stimme. Ihre großen Augen leuchten im Halbschatten schwarzer Wimpern. »Erwartet mich dort.«
Getränke werden hereingereicht, Kerzen entzündet und Parfüm wird versprüht. Ich muss nicht mehr lange warten.
Meine Auserwählte tritt ein durch die angelehnte Tür, die sie nun behutsam hinter sich schließt. Mit aufreizender Grazie beginnt sie stumm das blaue Kleid aufzuknöpfen. Schrittweise streift sie es über ihre Schultern. Es ist ein raffiniertes Spiel, das sich vor meinen Augen entwickelt und meine Begierde nach dem wundervoll geformten Körper antreibt, der mit jeder ihrer Bewegungen aus der herunterrutschenden Stoffschale tritt. Ihre kokett gespielte Schamhaftigkeit bringt mein Herz zum Rasen. Mit aufreizend langsamer Bewegung zieht sie die Strümpfe aus fleischfarbener Seide von ihren wohlgeformten Beinen. Schließlich richtet sie sich auf und steht überwältigend als bloße Eva vor mir. Ihre Figur ist makellos und so weiß, als wäre sie in Mehl getaucht. Ihre glatte Haut ist nur von einem überwältigend kostbaren Collier bedeckt. Wie die begehrtesten Liebesdamen Venedigs trägt sie dieses als funkelndes Band. Eine Gemme blitzt in der Mitte auf; diese ist eingerahmt von einem Kranz aus goldgefassten Edelsteinen.
»Dies ist das Strahlen der Venus, des großen Abendsterns«, sagt sie auf meine staunenden Blicke hin. Sie nimmt es sorgsam ab und kommt mit ausgebreiteten Armen auf mich zu. Meine Sinne entflammen, und alles in mir drängt zu ihr hin.
Ich spüre einen Anprall der Zähne bei der Berührung ihrer Lippen, die kalt sind wie Eis. Dafür soll sie die Schmelzofenglut in meinem Innern zum Kochen bringen. Sie wirft den Kopf nach hinten zurück, als ich ihre Taille umfasse. Ihr Blick flackert zwischen den halbgeöffneten Lidern.
Ich bedecke ihre Haut mit immer gierigeren Liebkosungen, bis ich vor Leidenschaft selbst zu zerspringen drohe. Welch wahnwitzige Jagd nach dem Unbekannten in der Frau! Welch schwindelerregende Wollust! Welcher Ausbruch aus den Fesseln der Welt, in der ich sonst gefangen bin!
Wie ich nun erschöpft neben ihr ruhe, wird mir bewusst, dass sie mit ihrer Glut und Gewandtheit schon häufig heftig gefochten haben muss. Jedenfalls besitzt sie das, was die Lust eines Mannes unwiderstehlich zum Äußersten treiben muss.
Donna Margarita kuschelt sich an mich. Sie hält die Augen geschlossen. Gesicht und Miene empfinde ich in meiner ernüchterten Betrachtung nun hart; nur die Grübchen neben ihrem Munde erfüllen ihr Antlitz mit Sanftheit. Hätte ich meine Kreiden dabei, würde ich unverzüglich beginnen, ihre verblühende Schönheit auf Papier zu skizzieren. Ihr Körper könnte gerade in dieser Beleuchtung das ausdrücken, was jeden Betrachter in Bann schlägt. Was für Maskeraden sind auf den Leinwänden verewigt worden, geht es mir durch den Sinn. Die elementare Naturschönheit wurde fast ausnahmslos verleugnet.
In diesem Moment fällt mir mein Auftrag von de Haro ein. Margarita hat alles, wovon der Lüstling in Madrid träumt. Vielleicht könnte ich sie dazu überreden, mir Modell zu liegen É
Ich komme nicht dazu, ihr meinen Wunsch zu offenbaren, da sie ein zweites Mal beginnt, in mir stürmisch alle Sinne zu wecken, was dazu führt, dass sich schon bald eine atemberaubende, erinnerungsauslöschende carezza daraus entwickelt.
Erst in den Morgenstunden verlasse ich die Gesellschaft der Aphroditen in der Casa di Desdemona, deren begehrenswerteste mir keine ihrer Künste vorenthielt.
Juans Feder würde verglühen, wollte ich das alles seinem Tagebuch anvertrauen É

16. Mai 1649

K
urz nach dem Weckruf, noch im Dunkel der Nacht, lassen wir in der Herberge zum Eisernen Krug in Lojano die Pferde satteln.
Ein warmer Sonnentag steht uns bevor. Die wegkundigen Mitreisenden haben uns empfohlen, die Kühle des Morgens zu nutzen. Nur so wäre es denkbar, bis zur Mittagszeit die Grenze des Großherzogtums Toskana zu erreichen.
In der Enge des Stalles zerren, stoßen und fluchen die Knechte, als wäre eine Prämie ausgesetzt worden, wer als Erster den Hof verlässt. Die Betriebsamkeit ist ansteckend. Wir wollen ebenfalls so schnell wie möglich aus dem Gedränge heraus. Schon im Sattel binde ich mir ein Fell über das Wams, da es doch noch recht frisch ist. Endlich, mit der heraufziehenden Morgendämmerung, begeben auch wir uns auf die Reise.
Im Gegensatz zu gestern, als wir auf der langen Strecke bis Pianoro neben dem Fluss Sávena leicht vorankamen, geht es heute unablässig über steil ansteigende, in vielen Biegungen sich die Berge hinaufwindende Wege.
Wir sind schon eine volle Stunde unterwegs, als sich unser Weg teilt, zur Rechten in einen von Karren und Lasttieren benutzten breiteren Saumpfad und zur Linken in einen steilen Fußweg. Da heute Sonntag ist, gehen hier Pilgergruppen zur nahen Kirche der Madonna del Bosco. Der Wirt unserer Herberge hatte mir diesen Weg als den näheren empfohlen, doch wegen der Lasttiere werden wir den breiteren nehmen müssen. Der Abschnitt ist mehr als beschwerlich. Die Tiere rutschen immer wieder auf dem Geröll und auf der von Bergbächen überspülten, glitschig gewordenen Erde aus und haben Mühe, Tritt zu halten. Der Saumpfad wird derweil enger und steiler.(wird fortgesetzt)

Artikel vom 01.04.2005