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Leitartikel
Der ominöse EU-Haftbefehl

Denken nur noch unter Aufsicht?


Von Rolf Dressler
Als ein fröhlicher musikalischer Ohrwurm haben viele Ältere das Siebziger-Jahre-Liedchen vom »Schmidtchen Schleicher« in Erinnerung. Ganz und gar nicht lustig hingegen ist so manches von dem, was die deutsche und die europäische Politik den 470 Millionen EU-Bürgern auf leisen Sohlen aufdrücken.
Dabei gehen die Herrschenden gerade in besonders heiklen Fällen so verdächtig diskret zu Werke, dass die breite Öffentlichkeit, wenn überhaupt, erst im nachhinein gewahr wird, was dieses oder jenes neue Paragraphen-Monstrum an Haupt- und Nebenwirkungen für jeden Einzelnen nach sich ziehen kann. Und zwar unabhängig davon, ob er sich zeitlebens rechtstreu verhalten hat, krimineller Machenschaften zumindest verdächtig oder sogar schon überführt ist.
Ein besonders mulmiges Gefühl müsste zum Beispiel die Geheimniskrämerei um den brisanten Europäischen Haftbefehl hervorrufen. Nur weiß kaum jemand Näheres darüber, die Urheber in den Regierungszentralen und in Brüssel natürlich ausgenommen.
Nach allen Regeln dieser zweifelhaften Zunft-Kunst hebt das Instrument des EU-Haftbefehls nämlich das Grundgefüge der traditionell gewachsenen und bewährten Rechtspraxis völlig aus den Angeln.
Denn »Übersteller« und »Auslieferer« bekommen jetzt das Sagen. Und das auf Verlangen der Justizbehörden eines anderen EU-Mitgliedslandes selbst dann schon, wenn diese nur einen Verdacht hegen gegen einen womöglich gänzlich unschuldigen Angehörigen eines anderen EU-Staates.
Darf es zudem eigentlich wahr sein, dass unter solchen Vorzeichen beispielsweise ein Franzose nach Polen ausgeliefert wird, ohne dass er sich dagegen bei Ge- richt überhaupt zur Wehr setzen kann, wie es bislang absolut selbstverständlich war?
Ist es nicht zutiefst erschreckend, dass damit ein Schlüssel-Artikel unseres Grundgesetzes - »Kein Deutscher darf ans Ausland ausgeliefert werden« - still und heimlich gekippt worden ist?
Und ist es nicht ein himmelweiter Unterschied, ob jemand sich plötzlich anstatt in einem deutschen Gefängnis etwa in einem portugiesischen, griechischen oder (nach einem etwaigen EU-Beitritt der Türkei) gar in einer türkischen Haftanstalt wiederfindet - noch dazu in einem Land, dessen Sprache man nicht spricht und dessen Rechtssystem einem völlig fremd ist?
Bleibt nur die Hoffnung, dass das Bundesverfassungsgericht diesem EU-Haftbefehls-Spuk ein gebührendes Ende bereitet.
Offenbar aber träumen noch immer (zu) viele Sozialisten und fanatische Anti-Diskriminierer davon, sogar das Denken und mit ihm Überzeugungen anderer Unliebsamer unter staatliche Aufsicht zu zwingen. Gerade so, wie George Orwell es in seinem Roman »1984« warnend beschrieb.
Nachlesen sehr zu empfehlen.

Artikel vom 23.03.2005