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Zwei Völker, ein Staat:
Belgien ist 175 Jahre alt
Zwei Ausstellungen sollen die Talente des Landes ins rechte Licht rücken
Mit dem Nationalstolz ist das so eine Sache. Die Franzosen sehen sich als »Grande Nation«, die US-Bürger sprechen von ihrer Heimat gar als »god's own country«, die Briten sehen sich als führende Nation des Commonwealth, von Meran bis Messina liebt man »bella Italia«.
Nur Deutsche haben oft das Gefühl, sie dürften aufgrund ihrer Vergangenheit keinen Nationalstolz entwickeln, geschweige denn äußern. Und die Belgier? Sie wollen nicht! Anders als die Schweizer, auf deren Territorium es trotz vier Amtssprachen eine starke eidgenössische Identität gibt, fühlen sich Menschen mit belgischem Pass in erster Linie als Flamen oder Wallonen. Dabei ist gerade diese Schnittstelle zwischen lateinischer und germanischer Kultur die Heimat kreativer Menschen.
Zum 175. Jubiläum des Königreiches Belgien sind in Brüssel jetzt zwei Ausstellungen zu sehen, die »die belgische Seele streicheln und unsere Talente ins rechte Licht rücken«, wie es die PR-Frau Nadine von Gestel beschreibt.
»Expo - Made in Belgium« im Brüsseler »Centre d'art« ist gleichermaßen ein Parforce-Ritt durch die Kulturgeschichte der Region wie auch eine Leistungsschau der Wirtschaft. Prominenten Wissenschaftlern und Sportlern wird ebenso gehuldigt wie Entdeckern und Visionären. Beispiele gefällig? René Magritte, Fernand Khnopff, Paul Delvaux und die Malerdynmastie der Brueghels hielten Einzug in alle bedeutenden Gemäldegalerien der Welt. Belgien ist aber auch die führende Comic-Nation der Welt, Figuren wie Spirou, Lucky Luke, Tim & Struppi, Nero und die Schlümpfe begeistern Kinder und Erwachsene gleichermaßen. Krimifreunde hingegen goutieren Georges Simenons Romane über den Kommissar Maigret.
Möbel aus Antwerpen und Lüttich genießen Weltgeltung, Designer wie Maxime Szyf (»Samsonite«) und Bob Daenen (»Tupperware«) haben den Alltag der Menschheit beeinflusst. Stylisten wie Dries van Noten und Walter van Beiredonck genießen in der Modewelt ein hervorragenden Ruf und brauchen sich hinter ihren Pariser und Mailänder Kollegen nicht zu verstecken. Adolphe Sax erfand das Saxophon, Musiker wie Jacques Brel, Adamo, Toots Thielemans und »Front 242« haben weltweit Fans.
Mit 525 Profi-Siegen auf dem Rad ist Eddy Merckx populärster Sportler Belgiens, aber auch der Rennfahrer Jacky Ickx, die Tennis-Königinnen Kim Cjijsters und Justine Henin, Fußballer Paul van Himst und Billard-Profi Raymond Ceulemans hielten Belgiens Flagge hoch. Und auch sie hinterließen in der Welt Spuren: Gerhard Mercator stellte 1569 die Weltkarte in zylindrischer Projektion vor, von ihm stammt auch das Wort »Atlas« für eine Kartensammlung. Adrien de Gerlache und der Mannschaft der »Belgica« gelang 1897 die erste Überwinterung in der Antarktis. Pater Damian praktizierte bei den Leprakraniken auf Hawaii christliche Nächstenliebe. Jean Jadot baute Bahnstrecken in der ganzen Welt. Und natürlich kommen in der Ausstellung auch Pommes Frites und Bier, Waffeln und Schokolade zu ihrem Recht.
Im Gegensatz dazu bietet die Schau »Visionäres Belgien« des kürzlich verstorbenen Kurators Harald Szeemann auch kritische Einblicke. Die politische Spaltung des Landes, die Verschandelung Brüssels durch klotzige Betonarchitektur, sexuelle Verirrungen, die Gräueltaten des Königs Leopold II. im Kongo -Êdas sind nur einige der Themen, zu denen Szeemann belgische Kunst aus der ganzen Welt zusammen getragen hat. Doch zwischen subversiven, ironischen und störrischen Interpretationen blitzen auch immer wieder Respekt, ja sogar Liebe für ein freiheitsliebendes Volk und seinen feinen Humor durch. Lineare Kunstgeschichte meidet Szeemann in seiner unnachahmlichen Art der Ausstellungs-Konzeption, dennoch tauchen die Schlüsselwerke belgischen Kunstschaffens natürlich auf - und auch belgische Extravaganzen wie Spiritismus und Pataphysik. Finden sich die Belgier darin wieder? »Szeemann hält uns ja mit einem gewissen Augenzwinkern den Spiegel vor - und ist belgische Identität nicht gerade durch Surrealismus und Zynismus gekennzeichnet? Ich kann hier durchaus so etwas wie Stolz auf mein Land entwickeln«, erklärt die Besucherin Janik Voituron stellvertretend für viele begeisterte Besucher.
Thomas Albertsen
www.bozar.bewww.expo-madeinbelgium.bewww.belgien-tourismus.de

Artikel vom 25.03.2005