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Munition für zehn Amerikaner

Der Volkssturm: Hitlers letztes Aufgebot gegen die »Hell on Wheels«

Bielefeld (WB). »Adolf zieht die Opas ein - soll das die Vergeltung sein?« Dieser sarkastische Spruch, zitiert aus einer Schrift des Heimatvereins Brackwede, führt uns drastisch vor Augen, was die Bevölkerung von der letzten Truppe hielt, die das NS-Regime gegen seinen längst besiegelten Untergang ins Feld führte - dem Volkssturm.

Ein Volkssturmmann war der erste Tote der Erdkämpfe um Bielefeld: Karl Kleineberg wurde am Ostersonntag, 1. April, vor seinem Haus an der Gütersloher Straße 153 von einer Kugel niedergestreckt.
Die Volkssturmverbände wurden seit September 1944 gebildet, um alle bisher noch nicht kämpfenden Männer zwischen 16 und 60 Jahren für die Verteidigung der Heimat und für den »Endsieg« aufzubieten. Reichsweit - vor allem im Osten -Ê verloren Zehntausende von ihnen ihr Leben.
Ubbedissens Chronist, der Hauptlehrer Rudolf Weithöner, erklärte später, die Einberufungen zum Volkssturm seien »mit Mißmut begleitet« worden. Aber: »Man wahrte die Form, wußte, daß der Apparat noch in voller Macht stand und tat so, als ob man Wochen für Ausbildung und Einsatz vor sich hätte«, schreibt Wilhelm Velthusen.
Velthusen zeichnete 1947 für Friedrich Karl Kühlwein seine Erlebnisse der letzten Kriegswochen auf (Kühlwein sammelte diese Quellen im Auftrag des Historischen Vereins). Velthusen war Adjutant des Oberstudiendirektors Dr. Georg Müller von der Friedrich-von-Bodelschwinghschule, der eine Kompanie des Zweiten Volkssturmaufgebots der Gemeinde Gadderbaum kommandierte. Wo war das Erste Aufgebot? Irgendwo am Dortmund-Ems-Kanal, um zu »schippen«. So nannte man den Einsatz am »Westfalenwall«, an dem sich die auf Berlin stürmenden Alliierten festrennen sollten . . .
Wilhelm Spellmann, ehemals Leiter der Grundheider Schule, der die Senner Gemeindechronik führte, vermerkt: »Der Volkssturm ist wohl eine der unglücklichsten Einrichtungen dieses Krieges gewesen. Ohne Ausbildung, ohne Waffen, ohne Uniform sollte er einem bis an die Zähne bewaffneten Gegner gegenübertreten.« Und Wilhelm Meyer, Chroniker der Senner Osthus-Schule, überliefert ein geläufiges Schmähwort: »Volkswind«. Andere hörten gar nur ein »Volksgesäusel« rauschen.
Wie wollte man mit Säuseln verhindern, dass sich die »Hell on Wheels« auftat? Die »Hölle auf Rädern« war die Eigenbezeichnung der gegen Bielefeld anbrandenden 5. US-Panzerdivision, und am 4. April, kurz vor 16 Uhr, gähnte der Höllenschlund an der Sperre an der Kreuzapotheke (Nähe Betheleck). Fabrikant Wilhelm Dohse bat um Verstärkung für seinen dort liegenden Volkssturmtrupp. »Sie haben noch zwei Karabiner mit je fünf Patronen - das gibt zehn tote Amerikaner. Sie haben bis zum letzten Mann zu halten«, lautete nach Angaben von Dohses Adjutant Daniel Delius der Befehl aus dem Sedanbunker.
Noch am 11. Februar hatte der lokale NSDAP-Bonze, Ortsgruppenleiter Weber, eine Ansprache »über Kerle mit dem Herz am rechten Fleck« gehalten, die gegnerische Panzer locker »erledigen« könnten. Das war sieben Tage, bevor der erste und vorläufig einzige Karabiner 98k bei der Gadderbaumer Truppe eintraf. Und am Ostersamstag, 31. März, hielten die Männer erstmals Panzerfäuste in Händen. Tags darauf war die US-Infanterie da.
Es passte also ins Bild, dass, als am frühen Nachmittag des 4. April Gefechtslärm vom Brackweder Bahnhof herüberdrang, Gadderbaums stellvertretender Ortsgruppenleiter, der Malermeister Heinrich Jörding, als erster die weiße Fahne hinaushängte. Die Wehrmacht rückte ab, und da entließ auch Volkssturmkommandeur Müller seine Leute nach Hause.
Wer eine Waffe besaß, warf sie einfach in den Wald. Der 15-jährige Druckerlehrling Wolfgang Brömmelsiek und seine Freunde klaubten sie Wochen später wieder aus dem Laub: »Mit stolzgeschwellter Brust, die Patronengurte lässig um den Hals geschlungen, zogen wir durchs Unterholz und verballerten die letzte Munition, immer auf der Hut vor den Besatzern. Mannomann, was haben wir uns toll gefühlt!«
Am Donnerstag lesen Sie: Hans Schumacher berichtet von den Ereignissen in Senne.

Artikel vom 22.03.2005