18.03.2005 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Kommentar
Vom Bundestag ins Kanzleramt

Berlin mächtig unter Druck


Alles, was Arbeit bringt, nutzt. Alles, was Arbeit verhindert, muss zurückstehen: Die Leitlinie von Bundespräsident Horst Köhler steckte gestern den Kurs ab für die dreistündige Begegnung im Kanzleramt.
Allerdings: Die Runde hat milliardenschwere Steuersenkungen besprochen, aber nicht beschlossen. Die Opposition hat drei Dutzend Vorschläge vorgelegt, die Regierung hat sie noch nicht abgesegnet.
Dennoch: Die Bundeshauptstadt spielte gestern nur die zweite Geige und geriet mit jeder Stunde mehr unter Druck aus Kiel. Dabei begann in Berlin dieser Tag so, wie er am Ende in die Geschichte eingehen könnte: als Signal für ein Zusammengehen - wenn er nicht gar das Ende von Rot-Grün markiert.
Das Wort »Pakt« stand im Blickpunkt, »Große Koalition« wurde dagegen geflissentlich gemieden. Kämpferisch legte sich der Bundeskanzler morgens um neun, als die Welt zwischen Berlin und Kiel noch in Ordnung schien, voll ins Zeug. Sein Leistungsnachweis heißt »Agenda 2010«, dafür steht er, und man glaubt es ihm. Trotz konkreter Angebote blieb Schröders Regierungserklärung dennoch nur Einstimmung auf die Fünfer-Runde mit Vizekanzler Joschka Fischer, den Unionsvorsitzenden Angela Merkel und Edmund Stoiber sowie Protokollführer Frank-Walter Steinmeier am Nachmittag.
Vehement stemmte sich der Kanzler gegen den Eindruck, »dass wir ökonomisch gesehen in einem Jammertal leben«. Dennoch erntete er nur müdes Lächeln bei allen, die nicht klatschen mussten.
Kein Kaninchen aus dem Hut, aber immerhin eine »Agenda 2010 plus« konnte Schröder am Vormittag präsentieren. Die Vereinheitlichung der Besteuerung kleiner und großer Betriebe, die Senkung der Körperschaftsteuer, Erleichterungen für den Mittelstand, zwei Milliarden für Verkehrsprojekte sowie Korrekturen an Hartz IV: Alles das ist löblich und keinesfalls kleinzureden - angesichts der Größe der Aufgabe aber auch recht relativ.
Die Reaktion von Angela Merkel - Ausdruck der De-facto-Mitregierung der Union - war dann mindestens so wichtig wie Schröders Vorgabe. »Nix wie ran, können wir machen«, sagte sie. Und auch das war ein glasklares Signal dieses geschichtsträchtigen Tages: Merkel reicht bloße Mitsprache nicht mehr aus. Mit ihrem Eintreten gegen das Antidiskriminierungsgesetz trug sie Schröder zu einem Jagen, das dieser gemieden hatte wie der Teufel das Weihwasser. Merkel stufte Schröder zum »Reparateur« 'runter, als Architekt einer einer neuen sozialen Marktwirtschaft wollte sie ihn nicht mehr durchgehen lassen.
Glasklar, wem sie die diese Rolle zudenkt: sich selbst.
Die Rede-Beiträge der Ministerpräsidenten Edmund Stoiber und Peer Steinbrück gerieten angesichts des sich beschleunigenden Ereigniskarussells am gestrigen Tage nur noch zur Proporz-Sache. Penetrant gekünstelt wirkte dann auch Joschka Fischers Wiederentdeckung der Sozialpolitik, noch peinlicher bei der Pressekonferenz nach dem Job-Gipfel sein Kleben an einer blauen Mappe. Das verbindet Fischer nun mit Heide Simonis. Reinhard Brockmann

Artikel vom 18.03.2005