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Auf zum »Frühjahrsfest der Bücher«

Ob Bankfiliale oder Friedhofshalle: In Leipzig wird an 200 Orten öffentlich vorgelesen

Von Simona Block
Leipzig (dpa). Für Altmeister Christoph Hein und Manga-Zeichenstar Kazuki Takahashi ist eine Begegnung im Normalfall so ungewöhnlich wie ein Duett von Luciano Pavarotti und Helge Schneider. Zur Leipziger Buchmesse aber prallen alljährlich U und E aufeinander, was die Messe für ein Publikum von fünf bis 100 Jahren attraktiv macht.

Die Mischung aus Gegensätzen, Klassik und Moderne, gedrucktem Buch und neuen Medien macht das »Frühlingsfest der Bücher« zu einem Event für Jedermann und Leipzig zum Sammelbecken für Buchmarkt-Trends. Menschentrauben, volle Hallen, überfüllte Säle und Gedränge an den Ständen gehören auch in diesem Jahr dazu, denn die Leipziger Buchmesse wächst weiter - mehr Fläche, mehr Aussteller. Der Kontakt von Verlegern, Autoren und Lesern ist ebenso gewollt wie die Tuchfühlung von Nachwuchsliteraten internationaler Schreibschulen, die sich erstmals zu einem Kongress am Rande treffen.
Fünf Tage lang können Leseratten jeden Alters wie in einem riesigen Buchladen stöbern und mit ihren Lieblingsautoren ins Gespräch kommen. Das mehr als 1200 Veranstaltungen umfassende Marathon-Programm »Leipzig liest«, das mit »Leipzig hört« Zuwachs bekommen hat, bietet tagsüber und an den Abenden ausreichend Gelegenheit für Begegnungen. Die Organisatoren setzen dabei auf die bewährte Mischung aus prominenten Gästen aller Gesellschaftsbereiche, literarischen Debüts, kuriosen Veranstaltungen, ernsthaften Foren und viel Spaß für junge Leser.
Auf der Messe sowie an mehr als 200 Orten in der Stadt - von Cafés und Clubs über Theater, Buchläden und Schulen bis zum Jugendamt, Museen oder Kirchen - sind Autoren wie Thomas Brussig, Amos Oz, Hellmuth Karasek, Walter Kempowski, Joachim Fest, Adolf Muschg oder Jorge Semprun zu erleben. Rüdiger Safranski und Sigrid Damm präsentieren ihre Schiller-Bücher. Zudem geben Schauspieler und Sänger wie Manfred Krug, Hermann van Veen, Pierre Brice und Katharina Thalbach der »kleinen« deutschen Bücherschau die Ehre.
Nach dem Blick auf die schwedische Literaturszene 2004 gibt es nun in einem nordischen Forum ein Gipfeltreffen von Einar Karason aus Island, Jostein Gaarder aus Norwegen und Per Olov Enquist aus Schweden. Auf einem Viertel der Ausstellungsfläche ist der Kinder- und Jugendbereich mit 260 Veranstaltungen und 85 Autoren fast ein eigenes kleines Festival. Allein 300 Programmpunkte gibt es für Comic-Fans.
Aus Japan anreisende Großmeister der Manga-Kunst sind Beleg dafür, dass Leipzig zu einem wichtigen Europa-Treff von Fans japanischer Comics avanciert ist. Besuche von »Yo-Gi-Oh«-Erfinder Kazuki Takahashi, das Deutschland-Debüt von »W Juliet«-Schöpferin Ms. Emura sowie Simpsons-Artdirector Nathan Kane gehören zu den diesjährigen Höhepunkten. Premiere hat ein Dojinshi-Markt, wo sich Talente präsentieren.
60 Jahre Kriegsende, das Dritte Reich, Evolutionsgeschichte und Zukunftsforschung sind ebenso wie Liebeskummer, Trennung der Eltern oder Sex für Teenager Themen von Foren und Gesprächen. Bei der mit sechs Stunden längsten Buchmesse-Lesung »Leipzig liest vor« können Bücherfreunde jeweils 15 Minuten aus ihren Lieblingsbüchern vortragen.
Leipzig wäre nichts ohne skurrile Leseorte wie Jugendamt, Gerichtssaal, Bankfiliale oder Friedhofshalle. Im Designer-Atelier feiert »Jahre sind nur Kleider« Premiere, in der »Bar reich und schön« geht es um »Reiche Mädchen«. Titus Müller findet bei einem Optiker die passende Kulisse für »Die »Brillenmacherin«, während im Tresorraum der Dresdner Bank über »Geldmacher« und das »geheimste Gewerbe der Welt« geplaudert wird. DEFA-Regisseur Rainer Simon lockt mit »Regenbogenboa« ins Zoo-Terrarium, und beim Metzger gibt's antivegetarische Gedichte: »Reime gegen Käse«.

Artikel vom 16.03.2005