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Die Geburtenkrise ist überwindbar

Max Wingens Plädoyer für bevölkerungsbewusste Familienpolitik

Von Hans Thomas
Köln (WB). »Kinder kriegen die Leute immer«, erklärte Konrad Adenauer 1957 und wischte damit die Frage vom Tisch, ob die Rente als Drei- oder Zweigenerationenvertrag angelegt werden sollte.

Längst ist alles anders: Seit 35 Jahren bringen es 100 deutsche Erwachsene auf 65 Kinder. 1970 geborene 65 Kinder haben inzwischen selbst Kinder, zusammen noch 43. Die bekommen ihre Kinder um 2030. Das werden, wenn der Gebärstreik anhält, noch 28 sein, die dann um 2036 in die Schule kommen. Zugleich werden die Alten älter.
Kurzum: zuerst Überalterung, dann Schrumpfung der Gesellschaft. Das Rentenproblem ist nur die Spitze des Eisbergs.
Dass diese Entwicklung nicht schicksalhaft ist, wohl aber ein dringendes Umdenken in der Politik verlangt, belegt der Familienwissenschaftler Max Wingen mit seinem Buch »Die Geburtenkrise ist überwindbar. Wider die Anreize zum Verzicht auf Nachkommenschaft.« Durch den Tod des Verfassers am 28. Januar 2005 ist es zu einem Vermächtnis des Professors geworden. Als Präsident des Statistischen Landesamtes Baden-Württemberg etablierte er schon früh und als erster dort eine Statistik-Sektion über die Familie, wirkte sei 1959 als Referent im Bundesfamilienministerium, in dem er von 1992 bis zur Pensionierung eine Abteilung leitete.
Das Buch weckt - ohne die Probleme zu verniedlichen - Zuversicht. Trotz zurückhaltender Sprache hält es der Politik einen Spiegel vor. Gesellschaftlich sind, so Wingen, die Anreize, auf Kinder zu verzichten größer als die Anreize des Lebens mit Kindern wie Lebensbejahung, Lebenserfüllung, Familienglück. Die Gründe dafür sind vielfältig - mal wirtschaftlich hergeleitet, oft auch im individualistischen Drang nach Selbstverwirklichung zu finden.
Wingen warnt vor drei Irrwegen: erstens vor bloß auf Bevölkerungswachstum angelegter Bevölkerungspolitik; zweitens vor sozialistischer Familienplanung, in der »ein demographisches Allgemeininteresse vom Staat vorgegeben wird«; drittens vor einer durch reine Individualinteressen beherrschten Politik, die den Individualismus wuchern lässt - und ebendeshalb gerade keine Politik ist.
Dagegen setzt Wingen eine »Gesellschafts- und Familienpolitik mit geburtenfördernden Nebenwirkungen« oder kurz: »bevölkerungsbewusste Familienpolitik« im Dienst am Gemeinwohl. Neu klingt da bei Wingen die Verpflichtung auf das »generative Gemeinwohl«, die dem Staat Gleichgültigkeit gegenüber der ehelichen Fruchtbarkeit verbietet. Zugleich muss er aber die persönliche Freiheit der Eltern respektieren. Daher der Grundsatz: Individualinteresse ernst nehmen und Gemeinwohlinteresse integrieren. Familienpolitik sei daher nicht Sache eines Ressorts, sondern eine gesellschaftspolitische Querschnittsaufgabe Sie verlange einen »policy-mix«, der familienpolitisch Rahmenbedingungen setzt, die die Anreize erhöht, mehr Nachwuchs zu haben.
Max Wingen: Die Geburtenkrise ist überwindbar: Wider die Anreize zum Verzicht auf Nachkommenschaft. Vektor-Verlag, 12 Euro

Artikel vom 11.05.2005