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Voller Freude blicke ich auf die Kulisse vor mir, die ich im Traum schon oft durchwandert habe. Doch Traumbilder und Traumgeschehen ersetzen nicht die Rückkehr in die Wirklichkeit. Auf meiner längst feucht und modrig gewordenen Koje träumte ich in den letzten Tagen am liebsten von einer Bettstatt aus weichen Daunen, überzogen mit dem Liebestuch der Mädchen aus Rom, mit silberbeschlagenen Pfosten, einer Lehne aus Gold und einem scharlachroten Baldachin. Ich träumte mir oft eine jener hinreißenden Nächte, wo jedes Geschöpf von dem Wunsch zu lieben erfüllt ist. Die Zeit der Enthaltsamkeit steigerte auch in mir die Leidenschaft.
Oft dachte ich daran, wie ich für Don Gaspar de Haro an die Weiblichkeit, das Geschöpf meines Sehens, in Venedig, Neapel oder Rom herankommen werde. Der Auftrag verschaffte mir plötzlich prickelnde Vorfreude, und ich fing an, mich in der Abgeschiedenheit meine Kajüte einzuschließen, um dem süßen Nachsinnen über das kommende Vergnügen zu frönen. Manchmal rief ich mir auch tagsüber eine Venus ins Gedächtnis, damit sie mir nachts im Traum erschien. Dort hoffte ich sie ohne Hindernisse betrachten zu können und begehrte sie immer und immer wieder.
Die allgegenwärtige Feuchtigkeit an Bord war das Unangenehmste in den letzten Wochen. Die Nebeltage wollten kein Ende nehmen. Die Nässe erreichte jeden Faden am Leib. Die Kleidungsstücke fingen an zu schimmeln und rotteten vor sich hin. Hinzu kam das Salz des Meerwassers, das jedes Leder und jeden Fetzen Stoff erstarren lässt und langsam aber sicher dahinrafft. Die einzigen beheizten und damit trockenen Orte an Bord waren die Kombüse und die Kajüte des Kapitäns, der sich an der Behaglichkeit eines Holzkohlebeckens ergötzen konnte. Wann immer es mir möglich war, suchte ich diesen Ort auf. Er wurde mir zur zweiten Heimstatt. Und es war der Platz, an dem ich Bazáns Bildnis vollendete É
Nur die Atocha glänzte von allen Seiten. Dafür sorgte der Kapitän. Um die Gefahren von Prügeleien, Verschwörungen oder die immer keimende Gefahr eines Aufstandes an Bord zu unterbinden, sorgte er Tag und Nacht für Beschäftigung. Von den Schiffsjungen angefangen über Matrosen, Steuerleute, Kanoniere bis hin zum Segelmacher, Zimmermann und Koch gab es jeden Tag neue Order. Das Exerzieren an den Geschützen und die Pflege- und Reparaturarbeiten nahmen kein Ende. Rigg, Takelage, Segel, Spills, Decks und der Rumpf des Schiffes wurden von Top bis Kiel inspiziert. Malen, Ölen, Teeren lösten sich ab mit Spleißen und der Herstellung verschiedener Arten von Tauwerk. Größte Aufmerksamkeit schenkte der Kapitän der Rattenjagd. Mehr als einhundertzwanzig dieser scheußlichen Tiere wurden im Rumpf der Galeone erlegt. Ab fünf getötete Ratten gab es je eine Pinte Rum, was den Jagdeifer beflügeln half. Dabei wurde die Ladung im Orlopdeck mehr als einmal umgeschichtet É
Doch die Aufrechterhaltung der Ordnung an Bord war nicht zuletzt der guten Versorgung der Mannschaften zuzuschreiben, für die der Kapitän von Anfang an persönlich sorgte. Er stellte sicher, dass Versorgungsboote jeden Tag Fässer mit frischem Wasser und frischer Verpflegung längsseits brachten. Bald schon war den Händlern klar, dass wir pestfrei waren É
Nur der Herzog von Nájera, so war zu erfahren, zeigte sich höchst unzufrieden. Nach seinem Anschlag auf mein Leben ließ der Kapitän ihn und Barojo zu sich bringen. Wie mir Bazán danach vertraulich berichtete, beschuldigte er den Herzog zusammen mit Barojo der Rädelsführerschaft, was allein schon den sicheren Tod für beide hätte bedeuten können. Der Kapitän ließ sodann beide für drei Tage im Orlopdeck in Ketten legen. Eine außerordentlich wichtige Rolle schien bei der Auseinandersetzung dem Conde Ramón Menéndez zuzufallen. Jedenfalls unterschrieben danach der Herzog und Barojo freiwillig ein Dokument, worin sie ihre Schuld eingestanden. Da sie sich danach wieder in ihrer Kajüte aufhalten durften, nehme ich an, dass sie sich mit viel Geld aus dem Orlopdeck freigekauft hatten.
Ab jenem Zeitpunkt erlaubte ihnen Bazán, sich auf dem Oberdeck zu bewegen. Allerdings nur unter strenger Aufsicht der Wachen. Damit hatte der Herzog auch bei seinem Tross den Respekt verspielt. Sogar sein mitreisender Zwerg Rinaldo wagte es, Possen über seinen Herrn zu reißen. Jedes Mal, bevor der Herzog das Deck betrat, spielte er seine Gebrechen in übelster Weise nach. Tat er es am Anfang noch vor wenigen Augen, so scherte ihn am Ende die Anwesenheit seines Herrn wenig. Das Gelächter und Gespött der Matrosen gaben dem gekränkten Edelmann schließlich den Rest.
Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich rapide, sodass Bazán befürchtete, sein Leichnam müsste bald dem Meer übergeben werden. Fieber, katarralische Symptome, Schmerzen im Brustkorb und Verdauungsprobleme warfen ihn darnieder. Wiederum vermittelte Menéndez. Der Kapitän ließ daraufhin des Herzogs Kajüte ausräumen, was allerlei Kuriositäten hervorzauberte, und anschließend ausräuchern. Der Schiffsarzt kurierte ihn schließlich mit verschiedene Tees und Gemüsesäften. Wie durch ein Wunder kam Nájera so wieder zu Kräften und kehrte bald zu seiner alten Rachsucht zurück.
Doch Bazán versicherte mir mehrmals, dass für mich, Juan und Esquivel keine Gefahr mehr bestehe. Weder auf dem Schiff noch später auf Italiens Boden. Die Kontrahenten sollten sich in Zukunft aus dem Wege gehen. Den Hintergrund seiner Feststellungen wollte er mir allerdings nicht verraten.
»Der Herzog befindet sich in meiner Hand É«, war alles, was er bereit war mir gegenüber zu äußern É
Schon zu Beginn der Quarantäne versuchte ich mein zukünftiges Arbeitsfeld in Italien gemeinsam mit Juan und Esquivel so weit wie möglich vorzuplanen und trat sowohl mit dem Dogen als auch mit verschiedenen Malern, Bildhauern und Gelehrten in Genua mittels Kurierbooten in brieflichen Kontakt, um meine zukünftigen Erwerbungen und Abgüsse vorzubereiten. Dabei war ich wiederum auf die großzügige Unterstützung des Kapitäns angewiesen, ohne dessen Wissen und Einverständnis nichts, aber auch gar nichts das Schiff verließ oder an Bord genommen werden durfte. Jedes Mal, wenn ein Boot längsseits kam, durften nur die Offiziere mit den Schiffern in Kontakt treten. Lediglich mir gestattete er die Freiheit des direkten Kontaktes, da es um die Beschaffung von Bleiweiß, rotem und gelbem Ocker, Zinnober, Azurit und Smalte ging, die ich noch zur Herstellung meiner Farben dringend benötigte. Nicht zuletzt ging es auch um die Absicherung der Quartiernahme in der Stadt nach der Quarantäne, die ich auf Anraten des Kapitäns selbst vorantreiben sollte.
Seltsamerweise hielt der Herzog bei allem still. Wenn wir uns an Deck begegneten, reichte ein stummes Nicken. Ansonsten ignorierte ich seine Anwesenheit an Bord. Nur mit Menéndez traf ich mich weiterhin regelmäßig zu Beginn der vierten Wache auf dem Halbdeck. Stetig drehten wir unsere Runden. Dabei unterhielten wir uns prächtig. Nichts wurde übersprungen. Von Kreuz und Bibel über die Geißel der Syphilis bis hin zu den Kurtisanen Venedigs und den Tugenden der Römer reichte der unerschöpfliche Gesprächsstoff. Nach Ablauf der ersten Woche unserer Quarantäne lud ihn der Kapitän auf meine Bitte hin an seine Tafel. Seitdem geriet das Mahl zum Fest der Sinne. Auf der Suche nach dem Weltenplan und unserer Bestimmung darin spazierten wir nächtelang geistig durch den Bazar der Kulturen, der Meinungen und Bewertungen, bis wir weinselig den Geruch des Moders nicht mehr wahrnahmen, der die Kojen zur Gruft verkommen ließ É
Es ist vorbei. Die letzte Nacht ist angebrochen. Die Atocha liegt an der Hafenmole Genuas vertäut. Die Zollwachen sind aufgezogen. Morgen früh, am Ende der Morgenwache, dürfen wir von Bord. Die vor Schmutz starrenden Kleidungsstücke habe ich längst dem Meer übergeben. Nur wenige sind noch auf der Haut zu ertragen. Es juckt und kratzt unaufhörlich É
Ich nehme das nun fertige Bildnis und freue mich auf den letzten Abend an der Tafel des Kapitäns. Auch in den Mannschaftsquartieren und in der Messe wird Rum ausgegeben. Schiff und Besatzung feiern ausgiebig ihre Wiedergeburt.
Bis zuletzt ist es mir gelungen, die Neugier des Kapitäns auf sein Bildnis abzuwehren. Die Aufmerksamkeit, die er für seine Person forderte, verlangte ich umgekehrt für meine Arbeit. So machte ich mit ihm ab, dass er es erst nach dessen Vollendung zu Gesicht bekommen dürfe. Auf diese Weise hielt ich ihn in Spannung und meinen Platz am Holzkohlebecken. Mit Genugtuung erinnere ich mich daran, dass er das Heck der Galeone während unserer Sitzungen mit dem Beiboot im Licht der Sonne halten ließ, sodass der Lichteinfall konstant gehalten werden konnte. Das gelang nur mit einer Kommandokette. Sie lief über die Galerie hinauf zum Quarterdeck und von dort aus zum Rudergänger und den Männern in der Schaluppe. Die Anordnung des Kapitäns versetzte die Rudergänger immer wieder in großes Staunen, da sie sich darauf keinen Reim machen konnten É
»Tretet ein!«, tönt es mir wie gewohnt entgegen. Bazán ist allein. Seine Augen leuchten, seine Mundwinkel sind weit hochgezogen, sodass ich sein Lachen als solches erkennen kann. Ich blicke mich um. Er hat meinen Wunsch erfüllt. Die Kajüte wird erhellt durch zusätzliches Kerzenlicht. Die Staffelei steht an ihrem vorgesehenen Platz. Der Zimmermann hat gute Arbeit geleistet. Ich bitte den Kapitän nun für einen Moment hinaus auf den Gang zu treten, um die Wirkung des ersten Anblicks zu erhöhen. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 15.03.2005