17.03.2005 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

»Das Schöne ist immer bizarr«

Not Vital stellt nach 1997 zum zweiten Mal in der Kunsthalle aus

Von Matthias Meyer zur Heyde
Bielefeld (WB). Kunst für Arbeitsplätze, Lebensmittel für Kunst - im Schaffen des Schweizer Skulpteurs Not Vital gilt das Prinzip Geben und Nehmen. »Dieser Austausch stellt jeden zufrieden«, sagt der 57-Jährige, den die Kunsthalle mit einer großen Ausstellung würdigt.

Von einer Win-Win-Win-Situation würden die Wirtschaftsexperten sprechen, denn erstens bringt der Künstler aus dem Engadin Bildung und schafft Arbeitsplätze im bitterarmen Niger, zweitens setzen die dort lebenden Tuareg, begnadete Silberschmiede, die Ideen des Europäers handwerklich um - und drittens erfreut sich der Museumsbesucher am Anblick der humorvollen, in jedem Fall anregenden Kunst des Not Vital. Dessen Name übrigens wurde nicht künstlich erdacht, sondern ist schlicht rätoromanischen Ursprungs. »Ich bin nicht so streng und so formell wie Beuys«, versichert der Künstler, den Kunsthallenchef Thomas Kellein jetzt nach 1997 zum zweiten Mal mit spektakulären Arbeiten vorstellt.
Getrocknete Tierkadaver in Silber- oder Keramikkugeln, ein ausgestopftes Kamel, im Park vergraben, zerbrochene Schädel: »Das Schöne ist immer bizarr«, zitiert Not Vital den Radikalästheten Baudelaire, und wer die Entstehungsgeschichte seiner Werke kennt, sieht leicht das Pittoreske hinter der abweisenden Fassade. »Die Tuareg betrachten ein Kamel nicht nur als Nutztier, sondern verlangen perfekte Proportionen - ganz ähnlich würde ein Europäer ein edles Rennpferd wahrnehmen«, erläutert Not Vital die parallelen Sichtweisen.
Aus den Bergen der Schweiz zog es den Künstler auf mancherlei Umwegen in die Wüste Zentralafrikas. »Die ist ja auch keine flache Ebene, sondern durch die gewaltigen Dünen stark strukturiert.« Eine lebensfeindliche Landschaft, und tatsächlich mögen Not Vitals Kugeln dem auf dem Markt von Agadez gekauften Kamel (nach langer Trocknung) zum Grab werden, »aber sie symbolisieren doch auch die Geburt aus dem Ei.« Die Tuareg übrigens waren »ganz sicher, dass ich die Kugeln als Speicher für gedörrte Nahrung benutze.«
Not Vitals berühmte »Bremer Stadtmusikanten« (Esel, Hund, Katze und Hahn in Silberbehältern) kehrten auf dem Umweg über Schwarzafrika in den westlichen Kulturkreis zurück. »Wo gibt es denn hier noch Esel? Doch nur im Zoo«, beschwert sich der Künstler. Den Tuareg sei Dank: Durch sie erst erfuhren manche Franzosen und alle Amerikaner vom Wirken der Brüder Grimm.
Konservierung ist ein Leitmotiv in Not Vitals ĂŽuvre, und er findet die Vorstellung faszinierend, dass dies »etwas mit dem Kampf um den Erhalt meiner Muttersprache, des Rätoromanischen, zu tun hat.« Der leise, bescheidene Mann aus den Zentralalpen ist auch ein Sammler. »Ich trage eine rätoromanische Bibliothek zusammen und habe eine Stiftung gegründet, die diese Kultur in einem 1642 erbauten Haus präsentiert.«
Von dem Sammeltrieb profitieren auch die Tuareg: Der Wanderer zwischen den Welten, der Überwinder von Kulturgrenzen sammelt auch Koran-Manuskripte, die den von weither anreisenden Kindern in Agadez oft als erste Lektüre dienen.
Wie charakterisiert man Not Vital? Ganz sicher als Nomaden. »Sesshaftigkeit bedeutet Langeweile«, versichert der Künstler, der an vielen Orten Ateliers eingerichtet hat. Doch er nutzt sie selten. Not Vitals Kunst entsteht im Umherschweifen - des Körpers wie der Blicke. »Hundertfach denselben Siebdruck in verschiedenen Farben wie in der Pop Art wird es von mir nie geben.«
Land Art dagegen wäre eine Option: »Meine nächste Schaffensperiode könnte etwas mit monumentalen Objekten in den Weiten Afrikas zu tun haben«, sinniert Not Vital. So groß müssten sie sein, dass sich ihre Form vollständig nur beim Blick aus dem Flugzeug erschließen würde.
Bevor Sie jetzt einen Afrika-Trip frühbuchen, freuen Sie sich erst einmal auf die Bielefelder Ausstellung mit »Sozialer Skulptur« - auf 21 Tonnen Salzlecksteine, die von Mensch und Tier sehr geschätzt werden, und deren Gegenwert in Form von Nudeln in den Niger verschifft wird. Staunen Sie über das Alu-Modell eines Lehmhauses in Agadez, das zur Beobachtung von Sonnenuntergängen geschaffen wurde.
Die marmorne Miniaturausgabe eines lebenspendenden Wasserturms erwartet Sie in der Kunsthalle - und zwei monumentale Tretroller aus Holz. »Im Normalmaßstab sind sie im Niger - wenn überhaupt - das einzige Spielzeug. Ich überlege, ob die Bielefelder Objekte auf afrikanischen Spielplätzen zu Klettergerüsten umfunktioniert werden könnten.«
Man sieht: Kaum hat Not Vital seinen Werkstoff, das Holz, der Natur entnommen, denkt er bereits daran, es wieder in den Kreislauf zu integrieren, dem ja auch der Mensch unterworfen ist. Die Schau in der Kunsthalle wird am Sonntag, 20. März, eröffnet.

Artikel vom 17.03.2005