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Leitartikel
Tante Emma, Krisengipfel

Vorher noch
mal rasch
ins Elsass?


Von Rolf Dressler
Ort des Zwiegesprächs zweier Arbeitsuchender: der Treppenaufgang zum Arbeitsamt (Dynamik-Deutsch: Arbeitsagentur). Sagt der eine zum anderen: »Jetzt ist die Angleichung von Ost- und Westdeutschland bald geschafft - wenigstens was die Arbeitslosenzahlen angeht.«
Leider sehr nahe an der bitteren Alltagswirklichkeit liegt auch die zugehörige Unterzeile einer bissig-ironischen, aktuellen Karikatur der »Frankfurter Allgemeinen«: »Endlich eine gute Nachricht: Innere Einheit perfekt!«
Erfreulicherweise macht sich indes allenthalben Unmut über die lähmend wirkende Politik Luft. Erfrischend fordern Lebenserfahrung und gesunder Menschenverstand die sogenannte Führungsklasse heraus, der es weithin an kaum etwas stärker mangelt als an fachlicher und konzeptioneller Klasse - sogar mehr noch als an energischem Handlungswillen.
Warum eigentlich niemand schlicht und klar den Rücktritt verlange von Wolfgang Clement, Hans Eichel und Gerhard Schröder, heißt es beispielsweise in einem Leserbrief an die »Frankfurter Rundschau«. Die Verfasserin empfindet es als unerträglich, dass »drei ausgewiesene Laien, ein gelernter Journalist, ein Ex-Lehrer und ein Automann ... die deutsche Volkswirtschaft ungestraft gegen die Wand fahren und dabei den Sozialstaat gleich noch mit zerquetschen«. Und in der Tat: Bisweilen wie unbedarfte Tante-Emma-Laden-Leiter verpulverten die Regierenden, von der Opposition nur sträflich schwach herausgefordert, über die Jahre hin wertvolle Kraft in nutzlosen Parlaments-, Interview- und Talkshow-Scheingefechten.
Apropos Tante-Emma-Laden. Deutschland ist keineswegs überall. So sammelte etwa der wirtschaftserfahrene WESTFALEN-BLATT-Leser Reinhard Roeser aus Höxter erstaunliche Reiseeindrücke in einem von vielen kleinen Lebensmittelgeschäften mit klassischer Kundenbedienung - im Elsass. Restfreiraum für das Personal zwischen deckenhohen Regalen, Kühlgeräten und der Verkaufstheke: ein nur ganze 70 Zentimeter schmaler Laufgang. Für höchstens fünf Kunden bleiben 200 mal 80 Zentimeter Platz. Und das »Büro« misst zwei Quadratmeter.
Um das Warenlager stets frisch aufzufüllen, fährt der Tante-Emma-Unternehmer oder seine Ehefrau alle zwei Tage 120 Kilometer. Die drei jungen Damen, die tatkräftig mitverkaufen, sind angehende Juristinnen und Betriebswirte. Das winzige Lädchen aber hat von 8 bis 22 Uhr durchgängig geöffnet. Und nach Geschäftsschluss sieht man die Helferinnen ein ums andere Mal fröhlich schwatzend von dannen ziehen.
Wohlgemerkt, dergleichen gibt es westlich wie östlich der deutschen Grenzen zigtausendfach. Erfrischend unverkrampft, wie selbstverständlich.
Vorschlag zur Güte: Die Damen und Herren Schröder, Fischer, Clement, Eichel, Merkel, Stoiber sollten noch einen gemeinsamen Blitzabstecher ins Elsass unternehmen. Zur Einstimmung auf den Krisengipfel am Donnerstag.

Artikel vom 15.03.2005