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Das Wort zum Sonntag

Von Pfarrer Hans-Jürgen Feldmann


»Wer meint, er stehe, mag zusehen, dass er nicht falle«, warnt der Apostel Paulus (1. Kor. 10, 12). Damit fasst er ein heikles Thema an: die Neigung des Menschen, sich selbst im Hinblick auf seine Charakterstärke, seinen Mut, seine Standfestigkeit, seine Zivilcourage und seine Prinzipientreue falsch einzuschätzen, sich nämlich völlig zu überschätzen.
Auch dafür ist die Passionsgeschichte ein Lehrstück. Als Jesus seinem Jünger Petrus auf den Kopf zusagt, er werde von ihm verleugnet werden, kann dieser es nicht fassen, dass so von ihm gedacht werden könnte. Er ist so pikiert, dass er seinem Herrn fast ins Wort fällt und wieder und wieder beteuert: »Auch wenn ich mit dir sterben müsste, werde ich dich nicht verleugnen« (Mark. 14, 31). Doch kaum sind diese vollmundigen Worte verhallt, zeigt sich, dass einer den Mund zu voll genommen hat. Die Bemerkung einer Magd, er habe doch auch zu dem Kreis um Jesus gehört, genügt, dass er weiche Knie bekommt und behauptet, er hätte ihn nicht einmal gekannt.
Petrus ist kein Einzelfall. Im Evangelium des morgigen Sonntags malen sich einige Jünger schon aus, welche Ehrenplätze sie im Reich Gottes belegen und mit welchen Machtbefugnissen sie darin ausgestattet sein werden. Sie sprechen ihren Meister sogar unmittelbar darauf an. Der aber antwortet mit einer Gegenfrage: »Ihr wisst nicht, was ihr bittet. Könnt ihr den Kelch auch trinken, den ich trinke, oder euch taufen lassen mit der Taufe, mit der ich getauft werde« (Mark. 10, 38)? Das ist ein Hinweis auf sein Leiden. Sie aber erwidern, ohne zu zögern: »Ja, das können wir.« Am Ende jedoch werden zwei Verbrecher mit Jesus gekreuzigt, während seine Jünger längst über alle Berge sind.
Den Irrtum, wir könnten für uns selber garantieren, gilt es fahren zu lassen, will man nicht eines Tages kleinlaut zugeben müssen, dass man sich innerlich übernommen hat und äußerlich gescheitert ist. Die Sicherheit, mit der die Jünger meinen, sich für ihr zukünftiges Verhalten schon im voraus verbürgen zu können, ist verblüffend. Verwunderlich ist aber vielleicht ebenso, dass Christus ihnen diese vermeintliche Standfestigkeit nicht rundheraus abspricht.
Aber in manchen Situationen hat es vermutlich überhaupt keinen Zweck, über bestimmte Verhaltensweisen zu diskutieren, weil von der anderen Seite keine Einsicht dafür erwartet werden kann, dass ihre Selbsteinschätzung möglicherweise auf tönernen Füßen steht und in sich zusammenbricht, wenn es ernst wird. Die Jünger Jesu mussten erst selber die bittere Erfahrung machen, dass sie sich selbst überschätzt hatten, um einsehen zu können: Es steht offensichtlich nicht beim Menschen selber, zu wissen, wer er in einem bestimmten Augenblick sein wird und wie er sich unter bestimmten Umständen und Bedingungen tatsächlich verhält.
Immer wieder geschieht es auch, dass Menschen über andere den Stab brechen, die Versuchungen erlagen, denen sie selber nie ausgesetzt waren. Die Fortsetzung dieses knappen Dialogs, dass nämlich die Jünger flohen und Jesus im Stich ließen, als die Bewährungsprobe hätte bestanden werden müssen, kann uns nur raten, den Satz »Das könnte mir nie passieren« besser nie zu denken und erst recht nicht über die Lippen zu bringen. Es kann einem nämlich durchaus einiges passieren, woran man im Traum nicht gedacht hätte und was einen später zutiefst beschämen könnte.
Aber auch dafür hat Christus »sein Leben als Lösegeld« gegeben. Ein Mensch steht und fällt nicht mit seiner eigenen Festigkeit, und seine Schuld und sein Versagen sprechen nicht das letzte Wort über ihn. Unter den Hymnen der alten Kirche gibt es einen merkwürdigen Lobgesang, einen Lobpreis, in dem nicht Gott gepriesen wird, allerdings auch nicht der Mensch, sondern die menschliche Schuld: »O felix culpa, quae talem ac tantum meruit habere redemptorem.« - »O glückliche Schuld, die einen so großen, so erhabenen Erlöser zu erhalten verdiente.« Vielleicht erweist uns unsere Schuld aber auch darin einen Dienst, dass sie uns menschlicher macht, indem sie uns darauf stößt, was an Unmenschlichem in uns steckt, und nach dem Erlöser ruft.

Artikel vom 12.03.2005