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Ein letztes Vaterunser
im strömenden Regen

Beisetzung der qualvoll verhungerten Jessica

Hamburg (dpa). Alles verstummt, als das Tor der Friedhofskapelle aufgeht und sechs Träger in schwarzen Umhängen erscheinen. In einem weißen Kindersarg unter einem bunten Frühlingsgebinde aus Tulpen und Rosen bringen sie die qualvoll verhungerte Jessica hinaus auf den kirchlichen Friedhof im Hamburger Stadtteil Rahlstedt.

Hinter dem Sarg treten Hamburgs Bürgermeister Ole von Beust (CDU) und Bürgerschaftspräsident Berndt Röder (CDU) in grauen Mänteln und mit gesenkten Köpfen aus der Kapelle. »Wer mich braucht, der wird leben, selbst wenn er stirbt«, zitiert der Pastor Thies Hagge aus der Bibel. Er ist Pastor der Friedenskirche des benachbarten Stadtteils Jenfeld, in dem Jessica zuletzt lebte.
Mehrere hundert Menschen folgen dem Sarg langsam zum offenen Grab, das in einem Feld für Kinder liegt. Viele haben kleine Blumensträuße dabei und die eigenen Kinder an der Hand. »Jessica - warum? Wir trauern«, steht auf einem Plakat, das eine Gruppe Jugendlicher trägt. Die Fassungslosigkeit über den grausamen Tod des siebenjährigen Mädchens ist vielen Menschen anzusehen. Die in Untersuchungshaft sitzenden Eltern des Mädchens nahmen nicht an der Beerdigung teil.
Wenige Sätze aus der Bibel von Pastor Hagge und ein gemeinsames Vaterunser sind die einzigen öffentlich gesprochenen Worte am Grab, wo Polizisten den Bürgermeister und die Angehörigen des Kindes nach allen Seiten abschirmen. Jessicas Patenonkel und ihr 14-jähriger Halbbruder mit seiner Adoptivmutter sind dabei. »Ich bin noch total schockiert«, sagt der Junge, der seine Halbschwester einen Tag vor seinem fünfzehnten Geburtstag zur letzten Ruhe begleitet. Der Jugendliche ist das erste Kind von Jessicas Mutter und hatte seine ersten Lebensmonate ähnlich wie Jessica in einer Art Dunkelhaft erlebt.
Bevor er geht, spricht Ole von Beust ein paar leise Worte mit dem blassen, dunkelhaarigen Jungen und klopft ihm tröstend gegen den Anorak. Am Grab sind zwei große Kränze aus roten Rosen und weißen Lilien aufgestellt, geschmückt mit Schleifen in den Farben der Deutschlandfahne und der Hamburger Flagge. Es ist der letzte Gruß der Hamburger Bürgerschaft. Im strömenden Regen warten die Menschen in einer langen Schlange geduldig darauf, Abschied von Jessica nehmen zu können. Viele haben Geschenke mitgebracht für das Kind, das sein Leben zuletzt eingesperrt, allein und ohne Licht verbringen musste.
Mit jedem Abschiedsgruß wächst die Sammlung von Stofftieren, Blumen und Bildern, so dass der kleine Grabstein aus rotblauem Marmor am Ende kaum noch zu sehen ist. »Jessica 1997 - 2005« steht darauf. Daneben liegt ein kleiner Teddybär mit der Aufschrift »Dein Schutzengel«.

Artikel vom 12.03.2005